Neuer Premier in London - kommt nun das Chaos-Brexit zu Halloween? Von Christoph Meyer, Verena Schmitt-Roschmann und Silvia Kusidlo, dpa

19.07.2019 12:29

Boris Johnson wird nächste Woche wohl der nächste britische
Premierminister. Er gibt sich hart beim Brexit und verlangt von der
EU Zugeständnisse, doch seine Forderungen scheinen unerfüllbar. Was
nun, Britannia?

London/Brüssel (dpa) - «Verschwenden Sie diese Zeit nicht». Mit
diesen Worten warnte EU-Ratspräsident Donald Tusk die Briten, als der
Brexit im April zum zweiten Mal verschoben wurde. In der neuen Frist
bis 31. Oktober sollte das britische Parlament eine Mehrheit für das
Brexit-Abkommen finden - so stellte sich die Europäische Union das
vor. Doch in den drei Monaten seither sind die Briten keinen Schritt
weiter gekommen.

In wenigen Tagen geht Premierministerin Theresa May, die den
Brexit-Vertrag ausgehandelt hatte und drei Mal im Unterhaus damit
gescheitert war. Für sie kommt wahrscheinlich der Brexit-Hardliner
Boris Johnson, der in Umfragen bei der Parteientscheidung weit vor
dem zweiten Nachfolgekandidaten Jeremy Hunt liegt. Johnson macht
vollmundige Versprechen für Änderungen am Abkommen - die die EU
jedoch kategorisch ausschließt. Ein Brexit ohne Vertrag am 31.
Oktober mit verheerenden Folgen für die Wirtschaft ist daher immer
wahrscheinlicher. Johnson und auch Hunt wollen das in Kauf nehmen.

Was fordern die Kandidaten von Brüssel?

Als Hauptproblem beim Brexit-Deal haben die beiden den sogenannten
Backstop ausgemacht. Das ist eine Garantieklausel, die verhindern
soll, dass zwischen dem britischen Nordirland und dem EU-Mitglied
Irland wieder Grenzkontrollen eingeführt werden müssen. Denn das
könnte den alten Konflikt zwischen katholischen Befürwortern einer
Vereinigung Irlands und protestantischen Loyalisten wieder schüren.

Der Backstop sieht vor, dass Großbritannien so lange Teil einer
Zollunion mit der EU bleibt, bis das Problem anderweitig gelöst ist.
Für Nordirland sollen zudem teilweise Regeln des Europäischen
Binnenmarkts gelten.

Die Klausel sei ein «Instrument der Einkerkerung» Großbritanniens in

Zollunion und Binnenmarkt, polterte Johnson bei einem Radioduell
Anfang der Woche. Er verlangt, den Backstop zu streichen und die
irische Grenzfrage erst nach dem Austritt in einem künftigen
Freihandelsabkommen mit der EU zu lösen. «Der Backstop ist tot»,
versicherte auch Hunt.

Was sagt die Europäische Union?

Die EU versteift sich auf die Gegenposition. «Das Austrittsabkommen
lebt», sagt der deutsche Europastaatsminister Michael Roth. Und auch
die EU-Kommission wiederholt stets das Mantra: Es wird nicht
nachverhandelt.

Vage Hoffnung hat man in Brüssel, dass die britischen Kandidaten im
Wahlkampf nur Schaum schlagen. «Das hat sich zu einem politischen
Schmierentheater entwickelt», meint zum Beispiel die
Grünen-Europaabgeordnete Terry Reintke. «Da wird viel geblufft.»

Die Rhetorik wird auch in Brüssel härter. Die Rede ist von einer
«Fantasiewelt» der Kandidaten. «In der echten Welt bedeuten (die
Ideen der Kandidaten) einen No-Deal mit verheerenden Konsequenzen»,
sagt ein EU-Diplomat. «Wenn Großbritannien das will, wird es das
bekommen. Wenn nicht, muss es der Realität ins Auge blicken und sich
entsprechend verhalten.»

Was geschieht als Nächstes?

Der Kandidat, der sich durchsetzt, wird von Königin Elizabeth II. am
Mittwoch mit der Regierungsbildung beauftragt. Höchstwahrscheinlich
wird es Johnson. Er übernimmt eine Regierung, die mit gerade einmal
drei Stimmen nur über eine hauchdünne Mehrheit im Parlament verfügt.


Wie groß das Misstrauen gegen Johnson ist, zeigte eine Abstimmung am
Donnerstag. Die Abgeordneten votierten überraschend deutlich für
einen Gesetzeszusatz, der es Johnson sehr schwer machen würde, das
Parlament für eine No-Deal-Lösung vorübergehend auszuschalten.

Hat Johnson einen Plan?

Der frühere Londoner Bürgermeister und Ex-Außenminister setzt wohl
darauf, dass die EU einknicken wird, wenn klar wird, wie ernst er es
mit einem No Deal meint. Vor allem das EU-Mitglied Irland, das für
die Grenzkontrollen zum britischen Nordirland sorgen müsste, werde
nachgeben, hoffen die Johnson-Anhänger.

Bisher deutet nichts darauf hin. Die EU beharrt auf der Linie, dass
bestenfalls die Politische Erklärung über die künftigen Beziehungen
beider Seiten noch zur Debatte steht. Es wird erwartet, dass Johnson
im Sommer durch europäische Hauptstädte touren wird, um die bisher
felsenfeste Front der EU aufzumeißeln. Weit oben auf der Liste stehen
neben der irischen Kapitale dabei Berlin und Paris.

Wird das Parlament in London einen No-Deal verhindern?

Die Möglichkeiten des Parlaments sind beschränkt. Nur einen Tag nach
Johnsons Amtsantritt beginnt die Sommerpause. Zum Showdown dürfte es
erst im September oder sogar im Oktober kommen. Die Abgeordneten
müssten die Kontrolle über den Parlamentskalender an sich reißen und

die Regierung per Gesetz zu einer weiteren Verschiebung des
EU-Austritt zwingen.

Gelänge das nicht, bliebe den proeuropäischen Rebellen in der
Tory-Fraktion nur noch, ihre eigene Regierung zu stürzen. Doch es ist
unklar, wer tatsächlich zu diesem außergewöhnlichen Schritt bereit
wäre. Die Hemmschwelle ist hoch.

Gibt es bald eine Neuwahl in Großbritannien?

Angesichts der verfahrenen Situation im Parlament gilt eine baldige
Neuwahl inzwischen als wahrscheinlich. Die Frage ist, ob sie vor oder
nach dem EU-Austritt stattfindet. Aus Teilen der EU gab es bereits
Signale, dass der Brexit-Termin am 31. Oktober für eine Wahl noch
einmal verschoben werden könnte.

«Ich bin bereit zu einer weiteren Verschiebung des Austrittsdatums,
wenn aus einem guten Grund mehr Zeit nötig ist», sagt die künftige
EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen. Die Aussicht ist ja auch
nicht verlockend, zum Amtsantritt 1. November als Krisenmanagerin von
Spannungen auf der irischen Insel, Lastwagenstaus am Ärmelkanal und
Produktionsausfällen in der Industrie beginnen zu müssen.

Allerdings hat Johnson eine Verschiebung des Brexit-Datums
ausgeschlossen. Wie sein Konkurrent Hunt will er auch keine Wahl vor
dem Austritt, aus Furcht vor dem Verlust von Wählerstimmen an die
Brexit-Partei von Nigel Farage. Andererseits könnte Johnson den von
ihm angedrohten No-Deal kaum ohne klare Mehrheit im Parlament
durchziehen. Nur ein neues Mandat der Wähler könnte wohl einen solch
drastischen Schritt absichern.