Neuer Premier in London - kommt nun der Chaos-Brexit zu Halloween? Von Christoph Meyer, Verena Schmitt-Roschmann und Silvia Kusidlo, dpa

22.07.2019 10:45

Boris Johnson geht im Rennen um das Amt des britischen
Premierministers am Dienstag wohl mit großem Abstand als Sieger ins
Ziel. Der Brexit-Hardliner verlangt Zugeständnisse von der EU, doch
seine Forderungen scheinen unerfüllbar. Was nun, Britannia?

London/Brüssel (dpa) - «Verschwenden Sie diese Zeit nicht.» Mit
diesen Worten warnte EU-Ratspräsident Donald Tusk die Briten, als der
Brexit im April zum zweiten Mal verschoben wurde. In der neuen Frist
bis 31. Oktober sollte das britische Parlament eine Mehrheit für das
Abkommen zum EU-Austritt finden - so stellte sich die Europäische
Union das zumindest vor. Doch in den drei Monaten seither sind die
Briten keinen Schritt vorangekommen.

An diesem Mittwoch geht Premierministerin Theresa May, die den
Brexit-Vertrag ausgehandelt hatte und drei Mal im Unterhaus damit
krachend gescheitert war. Für sie kommt voraussichtlich der
Brexit-Hardliner Boris Johnson, der in Umfragen bei der
Parteientscheidung weit vor seinem Konkurrenten Jeremy Hunt liegt.

Johnson macht vollmundige Versprechen für Änderungen am Abkommen -
die die EU jedoch kategorisch ausschließt. Ein Brexit ohne Vertrag am
31. Oktober mit verheerenden Folgen für die Wirtschaft und viele
andere Lebensbereiche ist daher immer wahrscheinlicher. Johnson und
auch Hunt wollen das in Kauf nehmen.

Als Hauptproblem beim Brexit-Deal haben die beiden den sogenannten
Backstop ausgemacht. Das ist eine Garantieklausel, die verhindern
soll, dass zwischen dem britischen Nordirland und dem EU-Mitglied
Irland wieder Grenzkontrollen eingeführt werden müssen. Denn das
könnte den alten Konflikt zwischen katholischen Befürwortern einer
Vereinigung Irlands und protestantischen Loyalisten wieder schüren.

Der Backstop sieht vor, dass Großbritannien so lange Teil einer
Zollunion mit der EU bleibt, bis das Problem auf andere Art gelöst
ist. Für Nordirland sollen zudem teilweise Regeln des Europäischen
Binnenmarkts gelten. Die Klausel sei ein «Instrument der
Einkerkerung» Großbritanniens in Zollunion und Binnenmarkt, polterte
Johnson kürzlich bei einem Radioduell. Er verlangt, den Backstop zu
streichen und die irische Grenzfrage erst nach dem Austritt in einem
künftigen Freihandelsabkommen mit der EU zu lösen. «Der Backstop ist

tot», versicherte auch Hunt.

Die EU versteift sich auf die Gegenposition. «Das Austrittsabkommen
lebt», sagte der deutsche Europastaatsminister Michael Roth. Und auch
die EU-Kommission wiederholt stets das Mantra: Es wird nicht
nachverhandelt. Vage Hoffnung hat man in Brüssel, dass die britischen
Kandidaten im Wahlkampf nur Schaum schlagen. «Das hat sich zu einem
politischen Schmierentheater entwickelt», meint zum Beispiel die
Grünen-Europaabgeordnete Terry Reintke. «Da wird viel geblufft.»

Die Rhetorik wird auch in Brüssel härter. Die Rede ist von einer
«Fantasiewelt» der Kandidaten. «In der echten Welt bedeuten (die
Ideen der Kandidaten) einen No Deal mit verheerenden Konsequenzen»,
sagte ein EU-Diplomat. «Wenn Großbritannien das will, wird es das
bekommen. Wenn nicht, muss es der Realität ins Auge blicken und sich
entsprechend verhalten.»

Der Kandidat, der sich durchsetzt, wird von Königin Elizabeth II. am
Mittwoch mit der Regierungsbildung beauftragt. Höchstwahrscheinlich
wird es Johnson. Er übernimmt eine Regierung, die mit gerade einmal
drei Stimmen nur über eine hauchdünne Mehrheit im Parlament verfügt.


Wie groß das Misstrauen gegen Johnson ist, zeigte eine Abstimmung am
vergangenen Donnerstag. Die Abgeordneten votierten überraschend
deutlich für einen Gesetzeszusatz, der es Johnson sehr schwer machen
würde, das Parlament für eine No-Deal-Lösung vorübergehend
auszuschalten.

Worauf gründet Johnson dann seinen Optimismus? Der frühere Londoner
Bürgermeister und Ex-Außenminister setzt wohl darauf, dass die EU
einknicken wird, wenn klar wird, wie ernst er es mit einem No Deal
meint. Vor allem das EU-Mitglied Irland, das für die Grenzkontrollen
zum britischen Nordirland sorgen müsste, werde nachgeben, hoffen die
Johnson-Anhänger.

Bisher deutet nichts darauf hin. Die EU beharrt auf der Linie, dass
bestenfalls die Politische Erklärung über die künftigen Beziehungen
beider Seiten noch zur Debatte steht. Es wird erwartet, dass Johnson
im Sommer durch europäische Hauptstädte touren wird, um die bisher
felsenfeste Front der EU aufzumeißeln. Weit oben auf der Liste stehen
neben der irischen Hauptstadt Dublin Berlin und Paris.

Die Möglichkeiten des Parlaments in London sind beschränkt. Nur einen
Tag nach Johnsons Amtsantritt beginnt die Sommerpause. Zum Showdown
dürfte es erst im September oder sogar im Oktober kommen. Die
Abgeordneten müssten die Kontrolle über den Parlamentskalender an
sich reißen und die Regierung per Gesetz zu einer weiteren
Verschiebung des EU-Austritts zwingen. Gelänge das nicht, bliebe den
proeuropäischen Rebellen in der Tory-Fraktion nur noch, ihre eigene
Regierung zu stürzen. Die Hemmschwelle ist hoch.

Allerdings haben etliche EU-Rebellen die Nase gestrichen voll. Der
besonnene Finanzminister Philip Hammond, eher ein Mann der leisen
Töne, hat wie Justizminister David Gauke am Wochenende bereits den
Rücktritt angekündigt, sollte Johnson Premier werden. Weitere
Minister dürften folgen. Hammond könnte sogar ein Misstrauensvotum
gegen Johnson unterstützen. Er schließt «im Moment gar nichts aus».


Angesichts der verfahrenen Situation im Parlament gilt eine baldige
Neuwahl inzwischen als wahrscheinlich. Die Frage ist, ob sie vor oder
nach dem EU-Austritt stattfindet. Aus Teilen der Staatengemeinschaft
gab es bereits Signale, dass der Brexit-Termin am 31. Oktober für
eine Wahl noch einmal verschoben werden könnte.

«Ich bin bereit zu einer weiteren Verschiebung des Austrittsdatums,
wenn aus einem guten Grund mehr Zeit nötig ist», sagte die künftige
EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen. Die Aussicht ist ja auch
nicht verlockend, zum Amtsantritt 1. November als Krisenmanagerin von
Spannungen auf der irischen Insel, Lastwagenstaus am Ärmelkanal und
Produktionsausfällen in der Industrie beginnen zu müssen.

Allerdings hat Johnson eine Verschiebung des Brexit-Datums
ausgeschlossen. Wie sein Konkurrent Hunt will er auch keine Wahl vor
dem Austritt, aus Furcht vor dem Verlust von Wählerstimmen an die
Brexit-Partei von Nigel Farage. Andererseits könnte Johnson den von
ihm angedrohten No Deal kaum ohne klare Mehrheit im Parlament
durchziehen. Nur ein neues Mandat der Wähler könnte wohl einen solch
drastischen Schritt absichern.