Untätig im Anblick des Klimawandels? EU-Agrarreform kommt nicht voran Von Alkimos Sartoros, dpa

16.09.2019 16:09

Angesichts der Klimakatastrophe fordern Grüne und Umweltschützer in
der EU-Landwirtschaftspolitik ein völliges Umdenken. Doch die
geplante Reform kommt politisch seit Monaten nicht vom Fleck.

Brüssel (dpa) - Die Temperaturen steigen, Wetterextreme nehmen zu,
Bauern verzeichnen wegen Trockenheit Ernteausfälle. Der Klimawandel
ist nicht mehr graue Theorie, sondern längst Realität. Zunehmend
rückt dabei die Rolle des Agrarsektors in den Fokus. Wie lässt sich
in Europa eine nachhaltige Landwirtschaft betreiben, die die
Ernährung des Kontinents sichert, ohne das Klima übermäßig zu
belasten? Die EU-Staaten verhandeln derzeit über eine Agrarreform.
Doch der derzeitige Entwurf greift aus Sicht von Kritikern zu kurz -
und droht zwischen Einzelinteressen zerrieben zu werden.

Die gemeinsame EU-Landwirtschaftspolitik spielt in Europa seit jeher
eine herausragende Rolle. 1962 wurde sie ins Leben gerufen, um vor
allem zwei Ziele zu erfüllen: sicherzustellen, dass Bauern ein
«angemessenes» Einkommen haben, und eine sichere
Nahrungsmittelversorgung in Europa zu gewährleisten. Klima- und
Umweltvorgaben kamen nach und nach im Laufe der Jahre hinzu.

Etwa 58 Milliarden Euro an Fördergeldern - rund 40 Prozent des
EU-Budgets - fließen derzeit jedes Jahr in den Sektor. Dies ist mit
Abstand der größte Posten im EU-Haushalt. Ein Großteil geht dabei als

Direktzahlungen an die Bauern, diese Summe richtet sich in erster
Linie nach der Größe der bewirtschafteten Fläche. Zudem gibt es
Fördergelder für die Entwicklung des ländlichen Raums.

Nun soll alles anders werden. Die EU-Kommission hatte im vergangenen
Jahr umfassende Änderungen vorgeschlagen. Die Staaten sollen mehr
Freiheiten bekommen, wie sie eine Reihe von vorgegebenen Zielen
erreichen wollen - etwa die Erhaltung der Natur, Klimaschutz und die
Sicherung der Lebensmittelqualität. Dazu sollen sie jeweils nationale
Pläne erstellen, die von der EU-Kommission genehmigt werden müssten.
Außerdem ist vorgesehen, die Agrarfördergelder etwas zu reduzieren.

Der Teufel steckt im Detail. Standen die Staaten den nationalen
Strategieplänen anfangs noch skeptisch gegenüber, zielen sie
mittlerweile eher darauf ab, für sich jeweils Flexibilität bei der
Erfüllung herauszuschlagen: Wie oft und detailliert muss im Rahmen
der nationalen Strategien die EU-Kommission informiert werden? Welche
Kriterien werden dabei genau berücksichtigt? Die Diskussion steckt
mittlerweile sehr im Detail und auf Arbeitsgruppenebene fest.

Finnland, das derzeit den Vorsitz unter den EU-Staaten inne hat, nahm
dies gar zum Anlass, das am Montag geplante Treffen der
EU-Agrarminister abzusagen. Zu wenig Fortschritte und zu wenig
Substanz, über die man sprechen könne, hieß es. Wie viel Geld für d
en
Agrarsektor letztlich abfällt, ist zudem nicht Sache der
Landwirtschaftsminister, sondern wird im Rahmen der gesamten
EU-Haushaltsverhandlungen für die Zeit von 2021 bis 2027 von den
Regierungen und dem Europaparlament geklärt. Wegen des erwarteten
EU-Austritts Großbritanniens wird weniger Geld zur Verfügung stehen.

Aus Kritikersicht ist dabei ein viel entschlosseneres Handeln und ein
grundsätzlicher Wandel nötig. «Die Diskussionen sind dem Ernst der
Lage ganz und gar nicht angemessen», sagt der
Grünen-Europaabgeordnete Martin Häusling. «Wir haben zwei Dürresomm
er
hinter uns.» Die Landwirtschaft habe bei der Einsparung von
Klimagasen etwas zu leisten.

«Landwirte sind bei der Umwelt- und Klimakrise an vorderster Front»,
sagt der Greenpeace-Agrarexperte Sebastien Snoeck. «Nationale
Regierungen und die EU müssten ihnen helfen, von der industriellen
Landwirtschaft wegzukommen hin zu nachhaltigerer, ökologischer
Produktion. «Dafür ist eine radikale Abkehr von der industriellen
Fleischproduktion nötig.»

Die EU müsse rasch ihre Emissionen in der Landwirtschaft reduzieren
und in Naturschutz investieren, fordert auch der Direktor der
Klimaschutzorganisation CAN (Climate Action Network). Es brauche
weitreichende Änderungen im EU-Landwirtschaftssektor.

Der Weltklimarat IPCC hatte in einem Bericht dargelegt, dass der
weltweite Temperaturanstieg über den Landflächen bereits 1,53 Grad
erreicht habe. Unter Berücksichtigung der sich langsamer erwärmenden
Meeresflächen liege das globale Temperaturplus gegenüber der
vorindustriellen Zeit bei knapp 0,87 Grad. Verglichen wurden die
Zeiträume 1850 bis 1900 und 2006 bis 2015. Der Weltklimarat hatte
2018 vor den Auswirkungen gewarnt, falls die globale Temperatur
insgesamt über 1,5 Grad steigen sollte. Zugleich sieht der IPCC
Gefahren für die sichere Lebensmittel-Versorgung wegen zunehmender
Extremwetter-Ereignisse. Die Land- und Forstwirtschaft steuert laut
IPCC rund 23 Prozent der vom Menschen verursachten Treibhausgase bei.

Die Grünen fordern angesichts dessen einen neuen Vorschlag der
EU-Kommission für eine umfassende Agrarreform. «Die
Landwirtschaftspolitik aus den fünfziger Jahren führt in die umwelt-
und klimapolitische Sackgasse», sagt Häusling. «Die Europäische
Kommission muss einen neuen Vorschlag für die Reform der Gemeinsamen
Europäischen Agrarpolitik vorlegen, um das Artensterben aufzuhalten
und die Landwirtschaft zur europäischen Klimaschützerin zu machen.»


Bauernverbände warnen hingegen davor, Landwirten neue Umwelt- und
Klimaschutzvorgaben aufzuerlegen und gleichzeitig die Fördergelder zu
reduzieren. Die Bauern laufen gegen die Kürzungen ihrer Hilfen Sturm,
weil viele von ihnen zu großen Teilen abhängig von den Zahlungen
sind. Eine finanziell gut ausgestattete europäische Agrarpolitik
«sorgt für wirtschaftliche Stabilität der Betriebe in offenen und
volatilen Märkten, unterstützt deren Wettbewerbsfähigkeit, fördert

eine nachhaltigere und flächendeckende Bewirtschaftung und stärkt die
Attraktivität und Vitalität ländlicher Räume», sagte der Präsid
ent
des Deutschen Bauernverbands (DBV), Joachim Rukwied.

Die Bauern fordern rasche Klarheit über künftige Fördergelder. Damit

ist kaum zu rechnen. Die Diskussionen über den EU-Haushaltsrahmen
könnten sich bis weit ins Jahr 2020 ziehen. Ob die neue EU-Kommission
unter der designierten Präsidentin Ursula von der Leyen, die am 1.
November ihr Amt antreten soll, die Vorschläge zur Agrarreform
zumindest noch überarbeitet oder ergänzt, ist ebenfalls offen.