Beispielloser Rechtsstreit um Parlamentspause in London Von Christoph Meyer und Silvia Kusidlo, dpa

17.09.2019 13:33

Hat Boris Johnson mit der vorübergehenden Schließung des Parlaments
gegen die Verfassung verstoßen und die Queen belogen? Vor dem Gebäude
des Supreme Court in London versammeln sich Demonstranten, die dem
Premierminister Machtmissbrauch vorwerfen.

London (dpa) - Von Protesten begleitet hat am Dienstag vor dem
obersten britischen Gericht die Anhörung zu der von Premierminister
Boris Johnson auferlegten Zwangspause des Parlaments begonnen. Elf
Richter des Supreme Court müssen entscheiden, ob das Gericht
zuständig ist und falls sie diese Frage bejahen, ob Johnson mit der
Schließung des Parlaments gegen die Verfassung verstoßen hat. Der
Rechtsstreit gilt als beispiellos in der britischen
Verfassungsgeschichte.

Vor dem Gerichtsgebäude im Londoner Regierungsviertel in Westminster
versammelten sich Demonstranten, darunter ein als grünes
Muskelmonster Hulk verkleideter Rentner. Premier Johnson hatte
kürzlich einen skurrilen Vergleich zwischen dem Comic-Helden und
Großbritannien gezogen. «Hulk ist immer entkommen, egal wie eng
gefesselt er war - und so ist das auch mit diesem Land.» Der als Hulk
verkleidete Rentner David sagte der Deutschen Presse-Agentur: «Wir
müssen unsere Demokratie beschützen.»

Eine Frau hatte sich den Mund zugeklebt und hielt ein Schild in den
Händen, auf dem «Kein Parlament, keine Stimme» stand. «Wir wollen
unser Land zurück», rief ein anderer Demonstrant. «Sie haben die
Queen getäuscht», stand auf dem Schild einer Frau. Johnson wird
vorgeworfen, er habe Königin Elizabeth II. für seine politischen
Zwecke belogen, um die Zwangspause durchzudrücken.

Aber auch einige Dutzend Brexit-Befürworter warteten vor dem Gericht.
Drei Jahre nach dem Referendum müssten die Parlamentarier endlich den
Brexit liefern, sagte der 56 Jahre alte Lee.

Vergangene Woche hatte ein schottisches Gericht die fünfwöchige
Parlamentsschließung für rechtswidrig erklärt. Nach Meinung der
Richter in Edinburgh wollte Johnson die Abgeordneten im Brexit-Streit
kaltstellen. Die Regierung legte gegen das Urteil Berufung ein.

Zwei weitere Klagen gegen die Zwangspause, vor dem High Court in
London und dem High Court im nordirischen Belfast, waren abgelehnt
worden. Auch diese Entscheidungen sollen vom Supreme Court überprüft
werden. Der Londoner High Court war der Auffassung, es handle sich um
eine politische, nicht um eine rechtliche Frage. Zu einem ähnlichen
Ergebnis kam der High Court in Belfast.

Erwartet wird, dass der Supreme Court auch am Mittwoch und Donnerstag
tagt und am Freitag eine Entscheidung verkündet.

Die vorübergehende Schließung des Parlaments innerhalb einer
laufenden Legislaturperiode wird in Großbritannien als Prorogation
bezeichnet. Sie steht üblicherweise einmal jährlich an und endet mit
der Verlesung eines neuen Regierungsprogramms durch Königin Elizabeth
II., der sogenannten Queen's speech. Ungewöhnlich an der von Johnson
erwirkten Prorogation ist ihre Länge. Statt mehrerer Wochen dauerte
sie in den vergangenen Jahrzehnten selten länger als einige Tage. Vor
allem aber gilt es als ungeschriebenes Gesetz, dass die Prorogation
nicht gegen den Willen der Mehrheit der Abgeordneten eingesetzt wird.

Der Streit berührt den Kern der britischen Verfassung. Anders als in
Deutschland und in vielen anderen Ländern handelt es sich dabei nicht
um ein einzelnes Dokument, sondern um eine ganze Reihe von Gesetzen,
Gerichtsentscheidungen und Konventionen. Die Verfassung entwickelt
sich durch Gesetzgebung oder neue Interpretationen bestehender Regeln
ständig weiter und wird neuen Verhältnissen angepasst. Manchmal ist
daher auch die Rede von einer politischen Verfassung.

Das Funktionieren dieses Systems ist davon abhängig, dass sich alle
Akteure an bestimmte ungeschriebene Regeln halten. Aus Sicht seiner
Kritiker hat Johnson gegen dieses Prinzip verstoßen, weil er die
Parlamentsschließung als politisches Mittel eingesetzt hat, um
notfalls einen EU-Austritt ohne Abkommen gegen den Mehrheitswillen
der Abgeordneten zu erreichen.

Die Richter müssen nun entscheiden, ob sich das Parlament
beispielsweise durch neue Gesetzgebung selbst gegen die angebliche
Grenzüberschreitung der Regierung zur Wehr setzen kann oder ob ein
Einschreiten der Justiz geboten ist. Gegebenenfalls müssten sie
selbst auch noch einmal bewerten, ob Johnson das Mittel der
Parlamentspause verfassungswidrig eingesetzt hat.

Begonnen hatte die Zwangspause in der Nacht zum 10. September. Bei
der Schließungszeremonie kam es zu tumultartigen Szenen.
Oppositionsabgeordnete hielten Protestnoten mit der Aufschrift «zum
Schweigen gebracht» hoch und skandierten «Schande über euch» in
Richtung der Regierungsfraktion. Das Parlament soll erst am 14.
Oktober - etwa zwei Wochen vor dem geplanten Brexit - wieder
zusammentreten.

Trotz Zwangspause konnte Johnson nicht verhindern, dass die
Abgeordneten ein Gesetz verabschiedeten, das den Premierminister zum
Beantragen einer weiteren Verlängerung der Brexit-Frist verpflichtet.
Sollte bis zum 19. Oktober kein Abkommen ratifiziert sein, müsste
Johnson einen entsprechenden Antrag nach Brüssel schicken. Der
Regierungschef will sich dem jedoch nicht beugen. Wie das gehen soll,
ohne das Gesetz zu brechen, erklärte Johnson bisher nicht. Gut
möglich, dass auch dieser Streit wieder vor Gericht landen wird.

Indessen widersprach der CSU-Europapolitiker Manfred Weber dem
britischen Premierminister im Brexit-Streit auf ganzer Linie. «Es
gibt keinen Fortschritt, das ist absolut klar», sagte der
Fraktionschef der Europäischen Volkspartei im EU-Parlament in
Straßburg. Johnson hatte schon vor einem Treffen mit
EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker am Montag in Luxemburg große
Fortschritte auf dem Weg zu einem geänderten Brexit-Abkommen gemeldet
und anschließend gesagt, er sei nun noch ein bisschen optimistischer.
Weber kritisierte auch Johnsons Absage einer Pressekonferenz in
Luxemburg wegen einer Gegendemonstration.