Beispielloser Rechtsstreit um parlamentarische Zwangspause in London Von Christoph Meyer und Silvia Kusidlo, dpa

17.09.2019 18:58

Hat Boris Johnson mit der vorübergehenden Schließung des Parlaments
gegen die Verfassung verstoßen und die Queen belogen? Vor dem Gebäude
des Supreme Court in London versammeln sich zum Auftakt der Anhörung
Demonstranten, die dem Premierminister Machtmissbrauch vorwerfen.

London (dpa) - Von Protesten begleitet hat am Dienstag die Anhörung
des obersten britischen Gerichts zu der von Premierminister Boris
Johnson auferlegten Zwangspause des Parlaments begonnen. Elf Richter
des Supreme Court in London müssen entscheiden, ob das Gericht in der
Sache zuständig ist. Falls sie diese Frage bejahen, geht es darum, ob
der Premierminister mit der Schließung des Parlaments gegen die
ungeschriebene Verfassung verstoßen hat. Der Rechtsstreit gilt als
beispiellos in der britischen Verfassungsgeschichte - und ist wichtig
für den weiteren Verlauf im Ringen um den Brexit.

Geklagt hatten Johnson-Kritiker in den Landesteilen England,
Schottland und Nordirland. Der Supreme Court soll nun als letzte
Instanz eine Entscheidung fällen, mit der am Freitag gerechnet wird.

Die obersten Gerichte von England und Nordirland hatten die Klagen
abgelehnt. Ihnen zufolge handelt es sich um eine politische
Auseinandersetzung. Das Gericht in Schottland hatte den Klägern
dagegen Recht gegeben. Nach Meinung der Richter in Edinburgh wollte
Johnson die Abgeordneten im Brexit-Streit kaltstellen. Gehört wurden
am Dienstag die Argumente der Berufungskläger zu den Verfahren in
England und Schottland. Am Mittwoch soll die jeweilige Gegenseite zu
Wort kommen.

Bedenken, Johnson könnte sich nicht an ein Urteil gebunden fühlen,
sollte das Gericht die Zwangspause für unrechtmäßig erklären,
versuchte Regierungsanwalt Richard Keen zu zerstreuen. Der
Premierminister werde alles Notwendige veranlassen, um der
Entscheidung des Gerichts Rechnung zu tragen, erklärte Keen. Das
könne zum Beispiel bedeuten, dass er bei der Königin eine Aufhebung
der Parlamentspause beantrage. Nicht ausschließen wollte Keen, dass
Johnson das Parlament anschließend in eine weitere Zwangspause
schicken könnte.

Vor dem Gerichtsgebäude im Londoner Regierungsviertel versammelten
sich Demonstranten. Eine Frau hatte sich den Mund zugeklebt und hielt
ein Schild in den Händen, auf dem «Kein Parlament, keine Stimme»
stand. «Sie haben die Queen getäuscht», stand auf dem Schild einer
anderen Demonstrantin. Johnson wird vorgeworfen, er habe Königin
Elizabeth II. für seine politischen Zwecke belogen, um die
Zwangspause durchzudrücken. Aber auch einige Dutzend
Brexit-Befürworter zeigten Flagge.

Die vorübergehende Schließung des Parlaments innerhalb einer
laufenden Legislaturperiode wird als Prorogation bezeichnet. Sie
steht üblicherweise einmal jährlich an und endet mit der Verlesung
eines neuen Regierungsprogramms durch die Königin. Ungewöhnlich an
der von Johnson erwirkten Prorogation ist ihre Länge. Statt mehrerer
Wochen dauerte sie in den vergangenen Jahrzehnten selten länger als
einige Tage. Vor allem aber gilt es als ungeschriebenes Gesetz, dass
die Prorogation nicht gegen den Willen der Mehrheit der Abgeordneten
eingesetzt wird.

Der Streit berührt den Kern der britischen Verfassung. Anders als in
Deutschland und in vielen anderen Ländern handelt es sich dabei nicht
um ein einzelnes Dokument, sondern um eine ganze Reihe von Gesetzen,
Gerichtsentscheidungen und Konventionen. Die Verfassung entwickelt
sich durch Gesetzgebung oder neue Interpretationen bestehender Regeln
ständig weiter und wird neuen Verhältnissen angepasst. Manchmal ist
daher auch die Rede von einer politischen Verfassung.

Das Funktionieren dieses Systems ist davon abhängig, dass sich alle
Akteure an bestimmte ungeschriebene Regeln halten. Aus Sicht seiner
Kritiker hat Johnson gegen dieses Prinzip verstoßen, weil er die
Parlamentsschließung als politisches Mittel eingesetzt hat, um
notfalls einen EU-Austritt ohne Abkommen gegen den Mehrheitswillen
der Abgeordneten zu erreichen.

Die Richter müssen nun entscheiden, ob sich das Parlament
beispielsweise durch neue Gesetzgebung selbst gegen die angebliche
Grenzüberschreitung der Regierung zur Wehr setzen kann.
Gegebenenfalls müssten sie auch noch einmal bewerten, ob Johnson das
Mittel der Parlamentspause verfassungswidrig eingesetzt hat.

Begonnen hatte die Zwangspause in der Nacht zum 10. September. Bei
der Schließungszeremonie kam es zu tumultartigen Szenen. Das
Parlament soll erst am 14. Oktober - etwa zwei Wochen vor dem
geplanten Brexit - wieder zusammentreten.

Trotz Zwangspause konnte Johnson nicht verhindern, dass die
Abgeordneten ein Gesetz verabschiedeten, das den Premierminister zum
Beantragen einer weiteren Verlängerung der Brexit-Frist verpflichtet.
Sollte bis zum 19. Oktober kein Abkommen ratifiziert sein, müsste
Johnson einen entsprechenden Antrag nach Brüssel schicken. Der
Regierungschef will sich dem jedoch nicht beugen. Wie das gehen soll,
ohne das Gesetz zu brechen, erklärte Johnson bisher nicht. Gut
möglich, dass auch dieser Streit wieder vor Gericht landen wird.