Juncker nennt Risiko eines ungeordneten Brexits «sehr real»

18.09.2019 13:08

Nun verhandeln sie auch offiziell wieder: Brüssel und London suchen
unter starkem Zeitdruck eine Einigung zum EU-Austritt. Ob das
gelingt, ist alles andere als gewiss.

Straßburg (dpa) - Sechs Wochen vor dem Brexit-Datum sind die Chancen
für ein glimpfliches Ende völlig offen. «Das Risiko eines No-Deal
bleibt sehr real», sagte EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker
am Mittwoch im Europaparlament in Straßburg. Die Europäische Union
wolle eine Vereinbarung mit Großbritannien und werde intensiv daran
arbeiten. Das Parlament plädierten mit einer großen Mehrheit von 544
zu 126 Stimmen dafür, das Austrittsdatum 31. Oktober notfalls weiter
aufzuschieben. 38 Abgeordnete enthielten sich. Allerdings warnt die
Wirtschaft inzwischen vor einer endlosen Hängepartie.

Juncker unterrichtete das EU-Parlament über sein Gespräch mit dem
britischen Premierminister Boris Johnson am Montag. Johnson wolle
Großbritannien in jedem Fall am 31. Oktober aus der EU herausführen,
ob mit oder ohne Austrittsvertrag. Knackpunkt ist nach Junckers
Worten immer noch die Vermeidung einer festen Grenze zwischen dem
EU-Mitglied Irland und dem britischen Nordirland. Die EU warte weiter
auf konkrete Vorschläge aus London, wie die im Vertrag enthaltene
Garantieklausel, der sogenannte Backstop, ersetzt werden könne.

Juncker sprach nun auch offiziell von neuen «Verhandlungen» mit der
britischen Seite - obwohl die EU das lange ausgeschlossen hatte. Er
sagte auch: «Ich habe keine emotionale Bindung an den Backstop.» Nur
die damit verbundenen Ziele müssten erfüllt werden. Deshalb habe er
Johnson gebeten, schriftlich Alternativen vorzulegen. Die
Verhandlungen sollten auf politischer Ebene geführt werden, also von
EU-Chefunterhändler Michel Barnier. Juncker sagte: «Ich bin nicht
sicher, ob wir Erfolg haben werden, es bleibt wenig Zeit. Aber ich
bin sicher, dass wir es versuchen müssen.»

Barnier warnte noch einmal eindrücklich vor den «erheblichen» Folgen

eines Brexits ohne Vertrag. Die Bürger verdienten die Wahrheit
darüber. Befürchtet werden unter anderem Versorgungsengpässe in
Großbritannien und eine Konjunkturdelle, aber auch Jobverluste in
Deutschland, wie der Industrieverband BDI in Erinnerung rief.

Es könne eine «hohe fünfstellige» Zahl von Arbeitsplätzen betroff
en
sein. BDI-Hauptgeschäftsführer Joachim Lang warnte deshalb vor einem
Austritt ohne Vertrag, aber auch vor einer kurzfristigen weiteren
Verschiebung ohne klares Ziel. Eine mögliche Fristverlängerung
vergrößere die Unsicherheit für die Unternehmen.

Eine große Mehrheit der Europaabgeordneten stimmte jedoch für eine
Resolution, in der eine nochmalige Fristverlängerung in Aussicht
gestellt wird. Die Grünen-Abgeordnete Terry Reintke sagte, viele
Menschen hätten inzwischen die Nase voll von der Brexit-Debatte. Doch
wäre es ein «Alptraum», wenn der Aufschub nicht gewährt würde. N
ötig
sei mehr Zeit, um einen Ausweg aus der Blockade zu finden.

Die sozialdemokratische Fraktionschefin Iratxe García Pérez sagte:
«Wenn Großbritannien noch mehr Zeit braucht oder ein neues Referendum
durchführen möchte, können sie auf unsere Unterstützung zählen.
» Und
auch der Fraktionschef der Christdemokraten, Manfred Weber, meinte:
«Die Bürger in Großbritannien sollten über die Zukunft entscheiden.
»

Johnson hat einen Antrag auf weiteren Aufschub ausgeschlossen, obwohl
das britische Parlament ihn per Gesetz dazu verpflichtet hat, falls
bis 19. Oktober keine Einigung mit der EU gefunden wird. Der
britische Premier pocht auf einen Deal beim EU-Gipfel am 17. und 18.
Oktober. Doch ist unbekannt, welche Lösung er anvisiert. In jedem
Fall wird die Zeit sehr knapp. Denn das EU-Parlament will über eine
etwaige Vereinbarung erst abstimmen, wenn das britische Unterhaus sie
angenommen hat.

Johnson steht in Großbritannien massiv unter Druck. Am Dienstag hatte
vor dem obersten britischen Gericht die Anhörung im Streit über die
von Johnson auferlegte Zwangspause des Parlaments begonnen. Kritiker
sagen, die überlange Sitzungsunterbrechung bis 14. Oktober solle die
Abgeordneten im Brexit-Streit kalt stellen. Eine Entscheidung des
Gerichts wird für Freitag erwartet.