Chaos-Brexit? Juncker nennt das Risiko «sehr real» Von Christoph Meyer, Amelie Richter und Verena Schmitt-Roschmann, dpa

18.09.2019 16:19

Die Zeit wird knapp für Großbritannien und die EU: Wieder naht ein
Austrittstermin, wieder kommen die Verhandlungen nicht vom Fleck.
Aber jetzt nur nicht die Geduld verlieren, warnen EU-Politiker.

Straßburg (dpa) - Das EU-Parlament plädiert für einen weiteren
Aufschub des Brexits, um einen chaotischen Bruch Ende Oktober
abzuwenden. Die Abgeordneten stimmten am Mittwoch in Straßburg mit
großer Mehrheit dafür. EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker sprach
erstmals offiziell von neuen «Verhandlungen» mit Großbritannien.
Anzeichen für einen baldigen Kompromiss mit London gibt es aber
nicht. «Das Risiko eines No-Deal bleibt sehr real», sagte Juncker.

In der unklaren Lage sechs Wochen vor dem Brexit-Termin 31. Oktober
treibt Schottland seine eigene Agenda voran. Regierungschefin Nicola
Sturgeon sprach sich bei einem Besuch in Berlin für ein neues
Unabhängigkeitsreferendum schon im nächsten Jahr aus. «Ich würde
vorhersagen, dass Schottland in den nächsten Jahren unabhängig wird
und zu einem unabhängigen Mitglied der EU wird», sagte Sturgeon. Die
Schotten hatten beim Brexit-Referendum 2016 mehrheitlich gegen den
EU-Austritt gestimmt, und Sturgeon stemmt sich gegen den harten Kurs
des britischen Premierministers Boris Johnson.

Der Regierungschef will den EU-Austritt unbedingt am 31. Oktober
durchziehen, ob mit oder ohne Austrittsvertrag. Das britische
Parlament hat ihn eigentlich verpflichtet, entweder bis 19. Oktober
eine Einigung mit der EU zu erzielen oder einen weitere
Fristverlängerung bis Ende Januar zu beantragen. Den Aufschub
schließt Johnson allerdings aus - ohne zu sagen, wie das ohne
Gesetzesbruch möglich sein soll. Stattdessen verbreitet er
Zuversicht, ein Deal mit Brüssel werde beim EU-Gipfel am 17. und 18.
Oktober klappen.

Juncker äußerte sich weit weniger optimistisch. «Ich bin nicht
sicher, ob wir Erfolg haben werden, es bleibt wenig Zeit», sagte der
Kommissionschef. «Aber ich bin sicher, dass wir es versuchen müssen.»


Konkret geht es immer und immer wieder um denselben Punkt: Johnson
will die von der EU geforderte Garantieklausel für eine offene Grenze
zwischen dem EU-Staat Irland und dem britischen Nordirland streichen,
den sogenannten Backstop. Demnach würde Großbritannien so lange in
der EU-Zollunion bleiben, bis eine bessere Lösung gefunden ist.
Johnson scheut die enge Bindung an die EU, die seinem Land eine
eigene Handelspolitik verwehren würde.

Dann soll London etwas Besseres vorschlagen, ist nun die Linie der
EU. «Ich habe keine emotionale Bindung an den Backstop», sagte
Juncker. Nur die damit verbundenen Ziele müssten erfüllt werden.
Deshalb habe er Johnson gebeten, schriftlich Alternativen vorzulegen.
Die Verhandlungen sollten auf politischer Ebene geführt werden, also
von EU-Chefunterhändler Michel Barnier.

Barnier selbst sagte ernsthafte Verhandlungen zu und warnte
gleichzeitig noch einmal eindrücklich vor den erheblichen Folgen
eines Brexits ohne Vertrag. Befürchtet werden unter anderem
Versorgungsengpässe in Großbritannien und eine Konjunkturdelle, aber
auch Jobverluste in Deutschland, wie der Industrieverband BDI in
Erinnerung rief.

BDI-Hauptgeschäftsführer Joachim Lang warnte deshalb vor einem
Austritt ohne Vertrag, aber auch vor einer kurzfristigen weiteren
Verschiebung ohne klares Ziel. Eine mögliche Fristverlängerung
vergrößere die Unsicherheit für die Unternehmen.

Die Grünen-Abgeordnete Terry Reintke räumte in der Debatte im
Europaparlament ein, viele Menschen hätten inzwischen die Nase voll
von dem Thema. Doch wäre es ein «Alptraum», wenn der Aufschub nicht
gewährt würde. Nötig sei mehr Zeit, um einen Ausweg aus der Blockade

zu finden.

Die sozialdemokratische Fraktionschefin Iratxe García Pérez sagte:
«Wenn Großbritannien noch mehr Zeit braucht oder ein neues Referendum
durchführen möchte, können sie auf unsere Unterstützung zählen.
» Und
auch der Fraktionschef der Christdemokraten, Manfred Weber, meinte:
«Die Bürger in Großbritannien sollten über die Zukunft entscheiden.
»
Das EU-Parlament stimmte dann mit 544 zu 126 Stimmen für eine
Resolution, die einen weiteren Aufschub in Aussicht stellt.

Johnson steht wegen des offenen Konflikts mit seinem Parlament in
Großbritannien massiv unter Druck. Am Dienstag hatte vor dem obersten
britischen Gericht die Anhörung im Streit über die von Johnson
auferlegte Zwangspause des Parlaments begonnen. Kritiker sagen, die
überlange Sitzungsunterbrechung bis 14. Oktober solle die
Abgeordneten im Brexit-Streit kalt stellen.

Der Regierungsanwalt James Eadie argumentierte am Mittwoch vor
Gericht, die Frage sei Sache der «hohen politischen Sphäre», die sich

der Gerichtsbarkeit entziehe. Eine Entscheidung des Gerichts wird für
Freitag erwartet.