Rücktritt von Präsident Morales stürzt Bolivien in Machtvakuum Von Denis Düttmann, dpa

11.11.2019 15:52

Lange Zeit war Bolivien eines der stabilsten Länder der Region -
jetzt droht der Andenstaat, im Chaos zu versinken. Der Ex-Staatschef
spricht von «Putsch», seine Gegner feiern das «Ende der Tyrannei».

Wer im Land nun das Sagen hat, ist unklar.

La Paz (dpa) - Nach dem Rücktritt von Boliviens Präsident Evo Morales
steht das südamerikanische Land ohne Regierung da. Neben dem
Staatschef reichten auch der Vizepräsident, die Präsidentin des
Senats und der Präsident der Abgeordnetenkammer ihre Rücktritte ein,
die nach der Verfassung eigentlich die Amtsgeschäfte übernehmen
müssten. Lediglich die zweite Vizepräsidentin des Senats, Jeanine
Áñez, erklärte sich im Fernsehsender Unitel bereit, die
Präsidentschaft vorübergehend zu übernehmen und Neuwahlen
anzuberaumen.

In mehreren Städten des Landes kam es Medienberichten zufolge in der
Nacht zum Montag (Ortszeit) zu Ausschreitungen. Am stärksten
betroffen waren der Regierungssitz La Paz sowie das benachbarte El
Alto. Die Seilbahn zwischen den Schwesterstädten stellte den Betrieb
ein. Zahlreiche Busse und Geschäfte wurden in Brand gesteckt. In
einigen Vierteln organisierten sich die Bewohner und errichteten
Barrikaden, um sich vor Plünderern zu schützen, wie die Zeitung «La
Razón» berichtete.

Morales war am Sonntag nur drei Wochen nach seiner umstrittenen
Wiederwahl zurückgetreten. Der Sozialist hatte sich nach der
Abstimmung am 20. Oktober zum Sieger in der ersten Runde erklärt,
obwohl die Opposition und internationale Beobachter erhebliche
Zweifel anmeldeten. Seine Gegner warfen ihm Wahlbetrug vor. Seitdem
kommt es bei Straßenprotesten fast täglich zu heftigen
Auseinandersetzungen zwischen den beiden Lagern. Mindestens drei
Menschen kamen bisher ums Leben.

Dabei hatte der erste indigene Präsident dem Armenhaus Südamerikas
eine lange Zeit der politischen Stabilität und der wirtschaftlichen
Entwicklung beschert. Er sorgte dafür, dass die satten Gewinne aus
der Gas- und Lithium-Förderung größtenteils im Land blieben und auch

der indigenen Bevölkerungsmehrheit zugute kamen. Um sich seinen Traum
zu erfüllen und bis zur 200-Jahr-Feier der Unabhängigkeit 2025 im Amt
zu bleiben, überspannte er den Bogen allerdings.

Die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) hatte in einem
vorläufigen Bericht Manipulationen bei der Präsidentenwahl
festgestellt und eine Annullierung empfohlen. Daraufhin hatte Morales
zunächst eine Neuwahl angekündigt, am Ende aber dem wachsenden Druck
von Militär und Polizei nachgegeben. Sein stärkster Gegenkandidat bei
der Wahl, der Ex-Präsident Carlos Mesa, twitterte, der Rücktritt
des Präsidenten bedeute ein «Ende der Tyrannei». Oppositionsführe
r
Luis Fernando Camacho aus der wirtschaftsstarken Region Santa Cruz im
Osten des Landes rief seine Anhänger dazu auf, den Druck auf der
Straße aufrecht zu erhalten.

Morales und seine Verbündeten in der Region sprachen von einem
Putsch. «Mesa und Camacho, Unterdrücker und Verschwörer, werden als
Rassisten und Putschisten in die Geschichte eingehen. Sie sollten
ihre Verantwortung wahrnehmen und das Land befrieden sowie die
politische Stabilität und das friedliche Zusammenleben unseres Volkes
garantieren», schrieb Morales am Montag auf Twitter. «Die Welt und
die patriotischen Bolivianer verurteilen den Putsch.»

Die Europäische Union rief die politischen Lager in Bolivien zur
Mäßigung auf und forderte Neuwahlen. «Wir hoffen, dass die Parteien
Zurückhaltung und Verantwortung walten lassen und das Land zu
glaubwürdigen Wahlen führen, damit das bolivianische Volk seinen
Willen äußern kann», sagte EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini a
m
Montag.

Morales regierte Bolivien seit 2006. Der 60-Jährige frühere
Koka-Bauer war der erste indigene Staatschef des Andenlandes und der
dienstälteste Präsident Südamerikas. Er hatte sich zum dritten Mal
zur Wiederwahl gestellt, obwohl die Verfassung höchstens eine
Wiederwahl vorsieht. Morales überwand diese Hürde mit Hilfe der
Justiz, die die Begrenzung der Amtszeiten als Verletzung seiner
Menschenrechte bezeichnete.

Der südamerikanische Kontinent kommt nicht zur Ruhe. Seit Anfang des
Jahres kämpfen in Venezuela Staatschef Maduro und der selbst ernannte
Interimspräsident Juan Guaidó um die Macht. Wegen der katastrophalen
humanitären Lage in dem einst reichen Land mit den größten
Erdölreserven der Welt haben bereits 4,5 der gut 30 Millionen
Venezolaner das Land verlassen. In Chile sind bei wochenlangen
Krawallen gegen soziale Ungerechtigkeit und Einkommensunterschiede
schon rund 20 Menschen getötet worden. Auch in Ecuador kamen jüngst
bei Protesten der indigenen Bevölkerung gegen die Streichung von
Benzinsubventionen mehrere Menschen ums Leben.