Jeremy Corbyn und der Brexit: Ja, nein, jein Von Christoph Meyer und Silvia Kusidlo, dpa

05.12.2019 12:41

Wenige Politiker in Großbritannien werden gleichzeitig so verehrt und
gehasst wie Jeremy Corbyn. Der Altlinke wird von den einen gefeiert
wie ein Star, andere halten ihn für gefährlich. Seine Haltung zum
Brexit ist nach wie vor unklar.

London (dpa) - «Oh, Jeremy Corbyn!» - Noch vor zwei Jahren schallte
dem britischen Oppositionsführer von der Labour-Partei der eigene
Name zehntausendfach entgegen beim Glastonbury-Festival, einer Art
Woodstock im Südwesten Englands. Corbyn wurde gefeiert wie ein
Rockstar. Bei der Wahl kurz davor hatte er den Konservativen mehr als
zwei Dutzend Mandate abgejagt und sie damit in eine
Minderheitsregierung gezwungen.

Nun wird wieder gewählt, doch die Corbyn-Begeisterung scheint
weitgehend abgeebbt. Labour fiel in den Umfragewerten wieder zurück.
Manche vermuten, dass es an der unklaren Haltung Corbyns zum Brexit
liegt. Doch er ist auch wegen anhaltender Antisemitismusvorwürfe
gegen seine Partei und ihn selbst immer wieder in der Kritik.

Beim Referendum über den EU-Austritt 2016 hat sich der 70 Jahre alte
Altlinke für den Verbleib in der Staatengemeinschaft ausgesprochen,
aber nur zaghaft für seine Position geworben. Corbyn galt schon immer
als Europaskeptiker. An diesem Eindruck hat sich in den vergangenen
drei Jahren kaum etwas geändert. Will Corbyn das Land aus der EU
führen oder den Austritt verhindern? Niemand scheint es zu wissen.

Sein Plan ist, nach einer gewonnenen Wahl erneut mit Brüssel zu
verhandeln. Dieses Mal soll aber eine engere Bindung an die EU
vereinbart werden. Beispielsweise spricht sich Corbyn für eine
Mitgliedschaft in der europäischen Zollunion aus. Er will das Land
auch eng an den Binnenmarkt binden. Diesen Deal will er dann
innerhalb von sechs Monaten den Briten in einem zweiten Referendum
vorlegen. Die Alternative wäre, in der EU zu bleiben. Corbyn will
dabei «eine neutrale Position» einnehmen, ließ er vor Kurzem wissen.


Wichtiger als der Brexit sind ihm aber ohnehin soziale Themen wie die
Wohnungsnot, der schlechte Zustand des Gesundheitssystems und die
Bildung. Bei seinem Wahlkampfauftakt drohte Corbyn: «Wir werden den
Steuerhinterziehern auf den Leib rücken, den skrupellosen Vermietern,
den schlechten Chefs.»

Seinen Anhängern gilt der dreifache Vater und in dritter Ehe
verheiratete Politiker als ehrliche Haut, einer, der nicht mit den
schmutzigen Tricks der politischen Konkurrenz kämpft. Persönliche
Angriffe und Schmähungen beantwortet er nicht. Corbyn: «Das ist nicht
mein Stil.» Er gilt als prinzipientreu. Er soll sich vegetarisch und
fast zuckerfrei ernähren, nicht rauchen und keinen Alkohol trinken.

Die Labour-Basis liebt ihn dafür. Doch dazu muss man wissen: Viele
Corbynistas, wie seine Anhänger in der konservativen Presse genannt
werden, sind der Labour-Partei erst vor Kurzem beigetreten. Manche
gehen soweit zu sagen, der Altlinke habe die Partei gekapert. Viele
gemäßigte Sozialdemokraten sehen in ihm einen Linksaußen mit
gefährlichen Sympathien zu sozialistischen Diktaturen.

Auch bei der Gesamtbevölkerung kommt Corbyn nicht so gut an. Umfragen
zeigen, dass ihm nur rund ein Viertel der Briten das Amt des
Premierministers zutraut. Mehr als doppelt so viele glauben, dass
sein Widersacher Boris Johnson dem Amt gewachsen ist.

Corbyns größtes Problem sind aber die Antisemitismus-Vorwürfe gegen
seine Partei und teils gegen ihn selbst. Der 70-Jährige macht sich
seit Langem für die Interessen der Palästinenser stark - einseitig,
wie Kritiker finden. Zudem wird ihm vorgeworfen, nicht entschieden
genug gegen antisemitische Auswüchse bei Labour vorzugehen. Ein
Großteil der britischen Juden (87 Prozent) hält ihn einer Umfrage des
Meinungsforschungsinstituts Survation zufolge selbst für
antisemitisch. Die knappe Hälfte erwägt demnach ernsthaft,
Großbritannien zu verlassen, sollte Corbyn zum Premierminister
gewählt werden.

Zu seinen umstrittensten Plänen gehört die Verstaatlichung
verschiedener Bereiche der Grundversorgung - etwa die Energie- und
Wassernetze sowie Post und Eisenbahn. Nur so ließen sich
beispielsweise Klimaziele erreichen, argumentieren Labour-Politiker
aus dem Corbyn-Lager. Unternehmerverbände laufen Sturm dagegen.