TV-Duell im britischen Wahlkampf: Johnsons Glaubwürdigkeit im Fokus

06.12.2019 19:27

Eine Woche vor der Parlamentswahl in Großbritannien am 12. Dezember
führen die Konservativen des Premierministers Boris Johnson mit
großem Abstand. Labour-Chef Jeremy Corbyn steht unter Druck, in die
Offensive zu gehen.

Maidstone (dpa) - Wenige Stunden vor dem letzten und möglicherweise
entscheidenden TV-Duell der Spitzenkandidaten im britischen Wahlkampf
ist Oppositionschef Jeremy Corbyn von der Labour-Partei in die
Offensive gegangen. Bei einer Wahlkampfveranstaltung stellte Corbyn
am Freitag ein durchgesickertes Regierungsdokument vor, das die
Glaubwürdigkeit von Premierminister Boris Johnson (Konservative) in
Sachen EU-Austritt infrage stellen soll.

Entgegen der Behauptung Johnsons geht daraus hervor, dass auch mit
seinem Brexit-Abkommen künftig Warenkontrollen zwischen dem
britischen Nordirland und dem Rest des Vereinigten Königreichs
stattfinden müssen. Der Regierungschef weist das zurück.

Corbyn und Johnson treffen an diesem Freitag in einem TV-Duell
aufeinander. Weniger als eine Woche vor der Parlamentswahl am 12.
Dezember gilt das Duell im BBC-Fernsehen (21.30 Uhr MEZ) als letzte
Chance für den Labour-Chef, das Ruder noch einmal herumzureißen.
Johnsons Konservative führen in den Umfragen mit großem Abstand vor
den Sozialdemokraten. Die beiden müssen sich in der einstündigen
Sendung Fragen aus dem Publikum stellen.

Wichtigstes Thema im Wahlkampf ist der geplante Brexit. Johnson will
das Land mit seinem neu verhandelten Austrittsabkommen zum 31. Januar
2020 aus der Europäischen Union führen. Dafür braucht er eine stabile

Mehrheit. Seine Vorgängerin Theresa May war mit ihrem Abkommen drei
Mal im Parlament gescheitert.

Corbyn will dagegen den Austritt noch einmal verschieben und
innerhalb von drei Monaten ein neues Abkommen mit Brüssel aushandeln.
Ihm schwebt ein Brexit mit sehr enger Bindung an die EU vor. Seinen
Deal will er den Briten in einem Referendum zur Abstimmung vorlegen.
Die Alternative wäre ein Verbleib in der Staatengemeinschaft. Corbyn
selbst will dabei neutral bleiben. Labour hat kaum Aussichten auf
eine eigene Mehrheit und müsste darauf hoffen, nach der Wahl mithilfe
von kleineren Parteien eine Minderheitsregierung bilden zu können.

Das zweite wichtige Thema im Wahlkampf lautet Gesundheit. Beide
Politiker versprechen massive Investitionen in den maroden Nationalen
Gesundheitsdienst (NHS). Geplagt werden sowohl Corbyn als auch
Johnson zudem von Antisemitismus- und Rassismusvorwürfen. Dem
Labour-Chef wird seit langem vorgehalten, antisemitischen Tendenzen
in seiner Partei nicht entschieden genug entgegenzutreten. Einige
halten ihn sogar selbst für antisemitisch. Johnson sieht sich immer
wieder dem Vorwurf des Rassismus und der Islamophobie ausgesetzt.

Eine Woche nach dem Anschlag bei der London Bridge dürfte auch das
Thema vorzeitige Haftentlassungen eine Rolle spielen. Der Attentäter
Usman Khan hatte am 29. November zwei Menschen erstochen und drei
verletzt, bevor er auf der London Bridge von Zivilisten überwältigt
und von der Polizei erschossen wurde. Er trug eine
Sprengstoffgürtel-Attrappe. Der wegen früherer Anschlagspläne bereits

verurteilte Terrorist war vor einem Jahr auf Bewährung vorzeitig
entlassen worden. Johnson forderte umgehend härtere Strafen für
Gewalt- und Schwerverbrecher. Corbyn äußerte sich zurückhaltender.

In Sachen Glaubwürdigkeit will auch der BBC-Moderator Andrew Neil
Johnson auf den Zahn fühlen. Sein von der britischen Rundfunkanstalt
per Twitter verbreiteter Aufruf an den Premier, sich einem Interview
zu stellen, ging am Freitag viral. Das Video wurde bis zum Nachmittag
5,5 Millionen Mal angesehen. Neil gilt als härtester Interviewer in
Großbritannien und wird oft als «chief attack dog» (oberster
Kampfhund) der BBC bezeichnet. Johnson weigert sich aber bisher.

Zudem könnten Johnson Sorgen um seine eigene Wiederwahl im Wahlkreis
Uxbridge and South Ruislip umtreiben. Aktivisten wollen genügend
Wähler mobilisieren, um ihm dort sein Mandat streitig zu machen. Der
Tory-Politiker gewann bei der vergangenen Wahl 2017 nur mit einer
knappen Mehrheit von rund 5000 Stimmen. 

In einem offenen Brief riefen am Donnerstag Dutzende proeuropäische
Organisationen die Chefin der Liberaldemokraten, Jo Swinson, auf,
ihre Kandidatin für den Wahlkreis zurückzuziehen und Labour zu
unterstützen. Im Gegenzug sollten die Sozialdemokraten nicht mehr im
Wahlkreis von Außenminister Dominic Raab, Esher and Walton, antreten.
Dort haben die Liberaldemokraten Chancen auf Erfolg. Beide Parteien
wollen ein zweites Referendum über den EU-Austritt erreichen.

In Johnsons Wahlkreis sind seit Wochen Aktivisten unterwegs, um junge
Wähler zu mobilisieren. Bei einer Rave-Party Mitte November in den
Straßen von Uxbridge riefen sie die Menschen dazu auf, sich für die
Wahl registrieren zu lassen. Dahinter steht eine Initiative mit dem
Namen «Fck Boris», die vor allem von jungen Frauen mit afrikanischem

und asiatischem Migrationshintergrund getragen wird.