EuGH: Polen, Ungarn, Tschechien hätten Asylbewerber aufnehmen müssen Von Michel Winde, dpa

02.04.2020 13:53

Es war vor allem ein Zeichen der Solidarität: Während der Hochphase
der Flüchtlingskrise beschlossen die EU-Staaten, Griechenland und
Italien Asylbewerber abzunehmen. Drei Länder beteiligten sich jedoch
nicht - und wurden nun vom EuGH verurteilt.

Luxemburg (dpa) - Im jahrelangen Streit über die Verteilung von
Asylbewerbern haben Polen, Ungarn und Tschechien eine schwere
Niederlage vor dem Europäischen Gerichtshof erlitten. Die drei
mitteleuropäischen Länder durften sich nach einem Urteil der
Luxemburger Richter vom Donnerstag nicht weigern, Italien und
Griechenland während der Flüchtlingskrise Asylbewerber abzunehmen.
Damit hätten sie gegen EU-Recht verstoßen (Rechtssachen C-715/17,
C-718/17 und C-719/17).

WIE EIN JAHRELANGER STREIT BEGANN

Italien und Griechenland hatten am Andrang von Asylsuchenden 2015
besonders schwer zu tragen. Deshalb entschieden die EU-Staaten in
zwei Mehrheitsentscheidungen die Umverteilung von bis zu 160 000
Asylbewerbern aus den beiden Ländern. Ungarn, Polen und Tschechien
weigerten sich jedoch beharrlich, die Beschlüsse umzusetzen - obwohl
der EuGH ihre Rechtmäßigkeit später bestätigte.

Ungarn und Polen nahmen im Rahmen der Beschlüsse keinen einzigen
Asylbewerber auf, Tschechien zwölf. Deshalb klagte die EU-Kommission
gegen die drei Länder. Mittlerweile sind die Programme beendet,
tatsächlich umgesiedelt wurden nach Angaben der EU-Kommission nur
knapp 35 000 Menschen. Der Streit über die Migrationspolitik in der
EU hält allerdings unvermindert an.

DAS URTEIL

Polen und Ungarn hatten argumentiert, die Umsiedlung gefährde die
nationale Sicherheit und öffentliche Ordnung. Die obersten EU-Richter
stellten nun klar, dass die beiden Länder mit dieser Begründung nicht
pauschal die Aufnahme aller Asylbewerber ablehnen durften.
Stattdessen hätte jeder Fall einzeln geprüft müssen.

Auch dem tschechischen Argument, der Mechanismus funktioniere nicht,
widersprach der EuGH. Indem ein Land sich jedoch einseitig der
Verantwortung entziehe, würden das Ziel der Solidarität sowie die
Verbindlichkeit der Beschlüsse unterlaufen. Die Entscheidungen seien
bis zu ihrem Ende für Tschechien gültig gewesen - unabhängig davon,
welche Hilfe Prag sonst noch für Griechenland und Italien leiste.

KEINE EINSICHT

Keines der drei Länder misst dem Urteil irgendeine Bedeutung bei. Der
tschechische Ministerpräsident Andrej Babis sagte der Agentur CTK:
«Wir haben diese juristische Auseinandersetzung zwar verloren, aber
das ist nicht wichtig.» Entscheidend sei, «dass wir keine Migranten
aufnehmen werden und dass das Quotenprojekt in der Zwischenzeit
beendet wurde - und das hauptsächlich dank uns.»

Auch aus Sicht der polnischen und ungarischen Regierung hat das
Urteil keine Konsequenzen. Die 2015 gefassten EU-Beschlüsse seien
ausgelaufen, ihre Umsetzung daher nicht mehr möglich, sagte der
polnische Regierungssprecher Piotr Müller der Nachrichtenagentur PAP.
Ungarns Justizministerin Judit Varga sagte laut Nachrichtenagentur
MTI: «Der Spruch hat keine weiteren Konsequenzen.» Es gebe für Ungarn

keine Verpflichtung, Asylbewerber aufzunehmen.

BREITE ZUSTIMMUNG - VON FAST ALLEN

EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen sprach hingegen von
einem wichtigen Urteil. Es beziehe sich zwar auf die Vergangenheit,
gebe aber Orientierung für die Zukunft. «Das Gericht ist sehr klar
was die Verantwortung der Mitgliedstaaten angeht.» Zum weiteren
Vorgehen der EU-Behörde äußerte sie sich nicht.

Auch sonst erfuhr das Urteil über Partei-Grenzen hinweg viel
Zustimmung - außer von der AfD. Der Grünen-Europaabgeordnete Erik
Marquardt sagte etwa: «Es ist gut, dass der Europäische Gerichtshof
klarstellt, dass die Verweigerung europäischer Solidarität gegen
EU-Regeln verstößt.» Cornelia Ernst (Linke) sprach von einem «klare
n
und richtigen Signal in Richtung der Rechtsaußen-Regierungen in Polen
und Ungarn». Und die EU-Abgeordnete Lena Dupont von der CDU sagte:
«Das Urteil, das sich auf die Lage 2015 bezieht, ist folgerichtig und
macht deutlich, dass europäische Solidarität grundsätzlich keine
Einbahnstraße ist.»

AfD-Politikerin Beatrix von Storch betonte hingegen, die Entscheidung
zeige, dass die nationale Souveränität in der EU gestärkt werden
müsse.

DIE EU UND IHRE ASYLREFORM

Seit Jahren ist klar: Die Asyl- und Migrationspolitik der EU muss
reformiert werden. Und seit Jahren geht es kaum voran. Staaten wie
Griechenland und Italien an den südlichen Außengrenzen wollen die
sogenannten Dublin-Regeln ändern. Danach ist meist jener Staat für
einen Asylantrag zuständig, dessen Boden der Schutzsuchende zuerst in
Europa betreten hat.

Länder wie Ungarn, Polen, Tschechien oder auch Österreich lehnen eine
verpflichtende Umverteilung von Asylbewerbern jedoch strikt ab. Nach
Ostern will die EU-Kommission einen neuen «Migrationspakt» vorlegen.
Eine verpflichtende Quote für alle Staaten dürfte dort - auch wegen
der unnachgiebigen Haltung der Mitteleuropäer - keine Rolle mehr
spielen. Stattdessen wird es wohl darum gehen, auch andere Formen der
Solidarität, etwa Geldzahlungen oder die Lieferung von Hilfsgütern,
zuzulassen.