Seenotrettung in der Corona-Krise - Was vom Malta-Abkommen bleibt Von Martina Herzog, Michel Winde, Simon Kremer und Annette Reuther, dpa

05.04.2020 08:00

Ein halbes Jahr ist es her, dass Horst Seehofer sich mit drei
EU-Kollegen auf ein Verfahren bei der privaten Seenotrettung einigte.
Zunächst hat das gut funktioniert. In der Corona-Krise herrscht bei
den Hilfsorganisationen aber vor allem eines: Unsicherheit.

Berlin/Brüssel (dpa) - Die Corona-Krise lähmt alles - aber Menschen
auf der Flucht gibt es immer. Was geschieht mit jenen Migranten, die
sich über das zentrale Mittelmeer auf den Weg nach Europa machen? Und
was ist aus dem vielbeachteten Abkommen zur Seenotrettung geworden,
das Innenminister Horst Seehofer vor gut einem halben Jahr abschloss?

DER MALTA-DEAL: Am 23. September 2019 einigte Seehofer (CDU) sich mit
seinen Amtskollegen aus Frankreich, Italien und Malta auf ein
Verfahren zur Seenotrettung im zentralen Mittelmeer. Schiffe mit
geretteten Migranten sollten nicht mehr tage- und wochenlang auf dem
offenen Meer warten müssen, ehe ihnen Häfen zugewiesen wurden.
Italien und Malta hatten von den anderen EU-Staaten jeweils Zusagen
gefordert, ihnen die Menschen abzunehmen. Der Malta-Deal war für
sechs Monate, also bis März angelegt. «Derzeit ruht das vereinbarte
Verfahren aufgrund des Coronavirus», erklärt eine Sprecherin des
Bundesinnenministeriums nun.

DAS BRACHTE DER MALTA-DEAL: Zunächst sorgte das Abkommen für
Entspannung. Die Bundesregierung spricht von «Erfolg». Die Bilder der
blockierten Rettungsschiffe unweit italienischer Häfen gab es nicht
mehr. Der EU-Kommission zufolge dauerte es von der Rettung bis zum
An-Land-Gehen im Schnitt fünf Tage. Die EU-Behörde verweist aber
darauf, dass die NGO teils selbst entschieden hätten, auf See zu
bleiben, um weitere Menschen zu retten. Doch neben der Vereinbarung
spielte auch die italienische Politik eine Rolle: Innenminister
Matteo Salvini, der Schiffe oft wochenlang auf dem Meer blockierte,
ist nicht mehr an der Macht.

WIE VIELE MENSCHEN UMVERTEILT WURDEN: Zwischen dem 23. September und
dem 27 Februar wurden nach Angaben der EU-Kommission 3015 Menschen
von den NGO gerettet. Fast alle gingen in Italien an Land, nur 80 in
Malta. Zusätzlich rettete Maltas Armee rund 1750 Menschen, die
zunächst nach Malta kamen. An der Verteilung der Menschen beteiligten
sich der Kommission zufolge neben den Staaten des Abkommens Portugal,
Luxemburg, Irland, Spanien, Litauen, Rumänien und Slowenien.

Deutschland erklärte sich schon im Juli vergangenen Jahres zur
Übernahme von Migranten bereit und machte laut Innenministerium
bislang eine grundsätzliche Zusage für 1046 Gerettete. Bis zur
Überstellung kann es allerdings dauern, auch weil deutsche Behörden
erst Sicherheitsüberprüfungen vornehmen. Knapp die Hälfte (502) ist
bereits in Deutschland. Derzeit ruht das Verfahren wegen der
Corona-Krise. Insgesamt 731 Migranten konnten deswegen bislang nicht
von Italien aus auf die anderen Staaten verteilt werden.

SEENOTRETTUNG WÄHREND DER PANDEMIE: Auch die Rettungsorganisationen
trifft die Corona-Krise schwer, vor allem die Reisebeschränkungen,
die auch für die Crews gelten, wie Maurice Stierl von «Watch the Med»

sagt. Mit der «Alan Kurdi» sei derzeit nur ein privates Schiff auf
dem Weg in die Gewässer vor Libyen. «Die Frage ist, was passiert,
wenn die Leute aufnehmen, wohin sie die bringen können?», sagt er.
Stierl fürchtet, dass die Schiffe wieder auf dem Meer auf eine
Entscheidung warten müssen. Organisationen, die in der Seenotrettung
aktiv waren wie Open Arms oder Ärzte ohne Grenzen, helfen jetzt auch
bei der Versorgung von Covid-19-Patienten in Italien oder Spanien.

LAGE IN ITALIEN: Noch immer gelangen Migranten nach Italien. Bis
Anfang April kamen 2794 Migranten per Schiff - im Vorjahreszeitraum
waren es nur 524. Die meisten davon kamen in diesem Jahr allerdings
im Januar und Februar, also noch bevor der Corona-Ausbruch Ende
Februar in Italien bekannt wurde und die Bewegungsfreiheit extrem
eingeschränkt wurde. Im März waren es 241 - etwa ein Dutzend weniger
als ein Jahr zuvor. Auch die EU-Grenzschutzagentur Frontex bestätigte
einen größeren Einbruch der Zahlen in den vergangenen drei Wochen.

Bei der Ankunft müssen die Migranten auf Covid-19-Symptome untersucht
werden, wie es in einer Anweisung des Innenministeriums heißt. Danach
kommen sie zwei Wochen in «Isolation» und anschließend in andere
Migrantenunterkünfte. Frei bewegen dürfen auch sie sich nicht.
Migranten, die illegal in der Landwirtschaft arbeiten, leben in
«Ghettos» - beispielsweise für die Zitrusfrüchte-Ernte in Kalabrien

oder die Tomatenernte in Apulien.

LAGE IN LIBYEN: Viele Migranten kommen über das Bürgerkriegsland
Libyen nach Italien. Hilfsorganisationen warnen vor einem Ausbruch in
den Flüchtlingscamps des Landes. Dort leben Tausende Menschen auf
engstem Raum. Human Rights Watch (HRW) ruft dazu auf, Inhaftierte
freizulassen. Nach einem Bericht des Global Health Security Index
zählt Libyen zu den Ländern, die am wenigsten auf eine
Gesundheitskrise vorbereitet sind. Offiziell gibt es elf Infizierte,
die Dunkelzimmer dürfte aber viel höher liegen.

LAGE AUF DEM MITTELMEER: Es sei schwierig zu sagen, welchen Einfluss
das Virus auf die Migrationsbewegungen auf dem Mittelmeer habe, sagt
Flavio di Giacomo von der Internationalen Organisation für Migration
(IOM). Es gebe zu viele Faktoren, allen voran den Bürgerkrieg in
Libyen. Hinzu kommt nach Aussagen von Hilfsorganisationen auch die
Wetterlage.

PLÄNE FÜR DIE ZUKUNFT: Die EU ist seit Jahren tief zerstritten über

ihre Migrations- und Asylpolitik, insbesondere über die Verteilung
von Asylsuchenden. Bislang gelten die Dublin-Regeln. Danach ist meist
jener europäische Staat für einen Asylantrag zuständig, auf dessen
Boden der Schutzsuchende zuerst europäischen Boden betreten hat - in
der Regel also die Länder an den südlichen EU-Außengrenzen. Nach
Ostern will die EU-Kommission einen neuen «Migrationspakt» vorlegen,
über den EU-Staaten und EU-Parlament dann verhandeln müssen.
Kommissionschefin Ursula von der Leyen hat schon betont, dass es
«einen tragfähigeren Rahmen für Such- und Rettungseinsätze» brauc
he:
«Weg von Einzelfallentscheidungen hin zu einer dauerhafteren Lösung».