Von der Leyen fordert Marshall-Plan für Europa wegen Corona-Krise

05.04.2020 15:45

Die Corona-Krise beschäftigt Europa und die Welt aktuell Tag und
Nacht. Doch einige Politiker denken bereits an den Tag danach. Nicht
ohne Streitpotenzial, aber mit einem hoffnungsvollen Blick nach vorn.

Brüssel/Madrid/Berlin (dpa) - Einen Marshall-Plan für die Zeit nach
der Corona-Krise hat EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen
gefordert. Trotz aller Hilfsmaßnahmen müsse Europa mehr Geld in die
Hand nehmen, verlangte sie in einem Gastbeitrag für die «Welt am
Sonntag». Aus diesem Grund sprach sie sich für massive Investitionen
in den EU-Haushalt aus. Der EU-Haushalt sei in allen Mitgliedstaaten
als Instrument des solidarischen Ausgleichs akzeptiert und müsse der
Krise entsprechend angepasst werden.

Der Marshall-Plan war ein milliardenschweres Hilfsprogramm der USA,
mit dem das vom Zweiten Weltkrieg gezeichnete Westeuropa wieder auf
die Beine kam.

Von der Leyen zeigte sich zuversichtlich, dass sich Europa bald
wieder erholen werde: «Die vielen Milliarden, die heute investiert
werden müssen, um eine größere Katastrophe abzuwenden, werden
Generationen binden.» So könne auch in der Krise das Gefühl der
Gemeinschaft unter den Nationen Europas erneuert werden.

Für einen Marshall-Plan sprachen sich auch die früheren deutschen
Außenminister Joschka Fischer (Grüne) und Sigmar Gabriel (SPD) aus,
allerdings zur Unterstützung Spaniens und Italiens, um ein mögliches
Auseinanderbrechen Europas zu verhindern. «Europa braucht jetzt
zweierlei: gemeinsame Hilfen in der Krise und ein gemeinsames
Wiederaufbauprogramm nach der Krise», schreiben Fischer und Gabriel
in einem Gastbeitrag für das «Handelsblatt» und den «Tagesspiegel
»
(Montag).

«Italien und Spanien werden es Europa und vor allem uns Deutschen
hundert Jahre lang nicht vergessen, wenn wir sie (...) jetzt im Stich
lassen. Und genau das tun wir gerade», kritisieren die beiden
früheren Minister. Das Coronavirus habe aus ihrer Sicht das
Potenzial, die ohnehin in Europa existierenden Risse so massiv zu
vertiefen, «dass die Union daran auseinanderbrechen könnte». Vor
allem in Italien war wiederholt Kritik an der mangelhaften Hilfe der
EU laut geworden.

Die EU drohe bei dieser größten Bewährungsprobe seit ihrer Entstehung

dramatisch zu versagen, meinten Gabriel und Fischer. «Stattdessen
erleben wir, dass Mächte wie Russland und China
öffentlichkeitswirksam Hilfe liefern, um genau dieses Defizit Europas
zu betonen. Dass hier humanitäre und politische Ziele mindestens
gleichzeitig verfolgt werden, liegt auf der Hand.»

Der spanische Ministerpräsident Pedro Sánchez rief die EU-Partner «in

einem kritischen Moment» zu «rigoroser Solidarität» auf. Um im Kamp
f
gegen die Corona-Krise nicht als Union zu scheitern, müsse die EU
«eine Kriegswirtschaft auf die Beine stellen», forderte der
sozialistische Politiker in einem Gastbeitrag für das
Nachrichtenportal der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung». Wie von der
Leyen sprach auch Sánchez von einem neuen Marshall-Plan.

Dieser Plan müsse «Maßnahmen zur Stützung der Schulden» enthalten
,
die viele Staaten aufnehmen müssten, sagte Sánchez. In den
vergangenen Wochen seien zwar wichtige Beschlüsse gefasst worden, wie
das befristete Notfall-Ankaufprogramm der Europäischen Zentralbank
(EZB) oder das Kreditprogramm SURE der EU-Kommission zur Finanzierung
von Kurzarbeit. Dies alles sei aber nicht genug. Man benötige
mittelfristig einen «neuen Mechanismus zur Vergemeinschaftung von
Schulden».

Die EU-Staaten sind uneins, ob sogenannte Corona-Bonds als Mittel
gegen die wirtschaftlichen Probleme in der Krise nötig sind. Dabei
handelt es sich um gemeinsame europäische Anleihen zur Finanzierung
der EU-Staaten. Unter anderem Italien und Spanien sind dafür, sie
fordern die Anleihen als Zeichen europäischer Solidarität. Zudem
argumentieren Befürworter, alle Staaten hätten somit dieselben
günstigen Finanzierungskonditionen. So könnten auch bereits hoch
verschuldete Länder wie Italien Geld zu günstigeren Konditionen
einsammeln, weil wirtschaftlich stärkere Staaten wie Deutschland
ebenfalls für Zinsen und Rückzahlung haften.

Die Bundesregierung in Berlin lehnt - wie auch andere EU-Mitglieder
wie Österreich - diese fest verzinsten Wertpapiere ab. Sie fürchten,
dass sie die Haftung für Schulden finanziell angeschlagener Länder
übernehmen müssen. Stattdessen tritt Finanzminister Olaf Scholz
(SPD) für ein Drei-Stufen-Modell ein: vorsorgliche Kreditlinien des
Euro-Rettungsschirms ESM, Bürgschaften der Europäischen
Investitionsbank EIB und das von der EU-Kommission vorgeschlagene
Programm zur Unterstützung von Kurzarbeitergeld-Modellen.

In der Krise sieht Sánchez, dessen Beitrag am Sonntag unter anderem
auch in der spanischen Zeitung «El País» erschien, aber auch «eine

Chance für den Wiederaufbau einer weitaus stärkeren EU». Ähnlich
äußerte sich von der Leyen auf Twitter. Europa habe bei der
Bekämpfung der Epidemie zwar anfangs einen «Fehlstart» hingelegt -
das tue heute noch weh. Aber jetzt stehe Europa zusammen. Ärzte und
Krankenschwestern im Ruhestand seien in den Dienst zurückgekehrt,
Millionen weiterer Freiwilliger unternähmen alles, um zu helfen, so
von der Leyen.

«Wir haben gesehen, wie Restaurants Lebensmittel an erschöpftes
medizinisches Personal liefern, Designerlabels Krankenhauskleidung
anfertigen und Autohersteller zu Produzenten von Beatmungsgeräten
werden», lobte von der Leyen. «Diese Akte der Freundlichkeit, des
Mutes und des Einfallsreichtums erfüllen mich mit Stolz. Dies ist die
Kraft der europäischen Solidarität.»