Kampf um Rollen und Regeln - Frauenmorde in der Türkei Von Anne Pollmann, dpa

07.08.2020 14:11

In der Türkei haben Männer 2019 rein statistisch pro Tag mehr als
eine Frau getötet. Aktivistinnen und Aktivisten kämpfen seit Jahren
dagegen an. Trotz internationaler Solidarität droht eine weitere
Niederlage.

Istanbul (dpa) - 21. Juli 2020: Die 27-jährige Pinar Gültekin wird
tot in einem Fass in einem Wald im westtürkischen Mugla aufgefunden.
Wenig später gesteht ihr Ex-Freund die Tat. Die brutale Tötung löst
über die Landesgrenzen hinaus Proteste aus. Weltweit teilen Menschen
in sozialen Netzwerken den Namen der ermordeten Kurdin.

Deniz Altuntas kann die Male nicht mehr zählen, die sie gegen
Frauenmorde demonstriert hat. In der Türkei hätten Männer im
vergangenen Jahr 474 Frauen getötet, sagt Altuntas, Mitglied der
türkischen Organisation «Wir werden Frauenmorde stoppen», die
monatlich Berichte zu sogenannten Femiziden veröffentlicht. Für jedes
einzelne Opfer würde sie am liebsten auf die Straße gehen.

«Sie sollen unsere Stimmen hören und unsere Gesichter sehen, sie
sollen sehen, dass wir sauer sind», sagt Altuntas und meint vor allem
die Regierung. «Die Frauenmorde nehmen zu, die Politik aber tut
nichts dagegen.»

Immer wieder tragen Menschen in der Türkei ihren Protest auf die
Straße oder in soziale Netzwerke - nicht erst seitdem die
Corona-Pandemie größeren Aufmärschen im Wege steht. Im Juli aber hat

der Protest Altuntas zufolge ein neues Ausmaß erreicht. Weltweit
teilten zahlreiche User schwarz-weiß-Bilder mit dem Hashtag
challengeaccepted in Verbindung mit dem Namen Gültekins auf Instagram
& Co. Mit dem Hashtag setzen sich besonders Userinnen seit Jahren
unter anderem für Frauenrechte und gegen Gewalt an Frauen ein. Auch
viele Prominenten hatten Beiträge mit dem Hashtag versehen. Gültekins
Tod habe viele Menschen noch einmal auf das Thema Femizide aufmerksam
gemacht, sagt Altuntas.

Auch der konservative Staatschef Recep Tayyip Erdogan stimmte in die
Empörung über den Mord an Pinar Gültekin ein. «Ich verfluche alle
Verbrechen gegen Frauen», schrieb der türkische Präsident auf
Twitter.

Grundsätzlich trete die Regierung für eine traditionelle Frauenrolle
ein, sagt Selime Büyükgöze von der Frauenrechtsorganisation «Mor
Cati». «Die Regierung will Frauen dazu ermutigen, zu Hause zu bleiben
und sich nur als Teil einer Familie wahrzunehmen. Und dieser Ansatz
wird immer mehr zum Mainstream». Büyükgöze sagt, man habe immer
gewusst, dass es einen diskreten Hass gegen unabhängige Frauen gebe,
«aber jetzt haben sie keine Angst mehr, ihn zu zeigen. Und das
resultiert in Gewalt gegen Frauen.»

2020 haben Männer bisher 142 Frauen getötet, wie das Internetportal
Diken unter Berufung auf das türkische Innenministerium berichtete.
Die Organisation «Wir werden Frauenmorde stoppen» hingegen spricht
von 182. Laut der Organisation werden viele durch Schusswaffen
getötet. Häufig sind die Täter Ehemänner oder Partner.

Auch außerhalb der Türkei werden die meisten Femizide durch
Lebensgefährten verübt, wie etwa Zahlen des European Data Journalism
Network für das Jahr 2015 zeigen. 2018 wurden laut Bundeskriminalamt
324 Frauen in Deutschland Opfer versuchter und vollendeter Tötungen
durch ihre (Ex-)Partner.

Engagement für Freiheiten jenseits heteronormativer Vorstellungen
verurteilt Präsident Erdogan scharf. LGBTQI (für Lesben, Schwule,
bisexuelle Menschen, Transpersonen, Queere und Interpersonen)
bezeichnete er kürzlich etwa als «pervers». Auch in der Türkei sind

sie häufig Anfeindungen und Gewalt ausgesetzt.

Die Existenz von LGBTQI werde von vielen Menschen in der Türkei über
Parteigrenzen hinweg schlichtweg nicht akzeptiert, sagt Altuntas.
«Sie glauben nicht an die Gleichheit, so einfach ist das.» Politiker
riefen Männer offen dazu auf, ihre Frauen zu schlagen. «Die Gewalt
steckt in unser aller Kultur.» Damit meint Altuntas nicht nur die
Türkei: «Patriachale Diskurse sind überall.»

Wie Zunder für den Protest wirkte auch die Diskussion über einen
Austritt der Türkei aus der Istanbul-Konvention. Das Übereinkommen
wurde 2011 vom Europarat ausgearbeitet und soll einen europaweiten
Rechtsrahmen schaffen, um Gewalt gegen Frauen zu verhüten und zu
bekämpfen. Erdogan selbst hatte es damals noch als Ministerpräsident
in Istanbul selbst unterschrieben.

Losgetreten wurde diese Diskussion von einer konservativ-religiösen
Plattform. Sie sahen Religion, Kultur, Bräuche, Ehre und Anstand
durch das Abkommen gefährdet. Eine mögliche Aufkündigung der
Konvention werten viele als Geste Erdogans in Richtung seiner
religiös-konservativen Anhängerschaft. In Zeiten sinkender
Umfragewerte versuche der Präsident so seine Wähler zurückzugewinnen.


Doch die Fronten zwischen Befürwortern und Kritikern verlaufen
teilweise auch durch das Pro-Erdogan-Lager. Nachdem der Sprecher der
Plattform etwa Unterstützerinnen der Petition als «Schlampen»
bezeichnet hatte, verteidigte die konservative
Frauenrechtsorganisation Kadem das Abkommen. Im Vorstand sitzt
Sümmeye Erdogan Bayraktar, die Tochter des türkischen Präsidenten.

Erst kürzlich verkündeten die Vertreter der Plattform dann, sich aus
der Diskussion zurückzuziehen. Man habe ein Minenfeld betreten, hieß
es. Was das für das Abkommen bedeutet, ist noch unklar.

Die Konvention könne Schutz, Prävention und Rechtssicherheit
schaffen, sagt Altuntas. «Aber sie ist nie vollständig implementiert
worden.» Obwohl das Land die Konvention bereits 2012 ratifiziert
habe, seien die damit verbundenen Rechtsnormen nicht angewandt
worden, kritisiert auch die Internationale Gesellschaft für
Menschenrechte. Wirkung hat sie dennoch entfaltet, wie etwa Ayse
Celik, Anwältin in der Türkei und engagiert im Kampf für
Frauenrechte, berichtet. Sie mache oft von der Istanbuler Konvention
Gebrauch, wenn sie Frauen vor Gericht vertrete.

Auch in Straßburg ist man auf die Austrittsforderungen aufmerksam
geworden. «Wir verfolgen die Diskussion in der Türkei sehr genau»,
teilte Europarat-Sprecher Daniel Höltgen mit. Die Türkei sei das
erste Land gewesen, das die Konvention 2012 ratifiziert habe. Die
Konvention sei zweifellos eine der erfolgreichsten des Rates. Im
kommenden Jahr wird sie zehn Jahre bestehen: «Wir gehen davon aus,
dass die Türkei dabei sein wird», so Höltgen. Auch Polen hatte
kürzlich angekündigt, die Istanbul-Konvention auf
Verfassungskonformität überprüfen zu wollen.

Daran, was passieren könnte, wenn die Türkei aus der Konvention
austritt, will Altuntas nicht denken. Um ihre eigene Sicherheit wegen
ihres Aktivismus fürchtet sie nie. Die große Rückmeldung via Social
Media nach Pinar Gültekins Tod habe das erneut gezeigt: «Es gibt so
viele Frauen, die gemeinsam mit mir kämpfen. Wir sagen immer «You
will never walk alone»».