Polizeigewalt in Belarus: Oppositionelle Tichanowskaja flieht in EU Von Claudia Thaler und Ulf Mauder, dpa

11.08.2020 16:46

Immer brutaler geht der Machtapparat von Alexander Lukaschenko in
Belarus gegen Bürger vor. Doch die größten Proteste in der Geschichte

des Landes gegen Wahlfälschungen reißen nicht ab. Die Oppositionelle
Tichanowskaja bringt sich in Sicherheit.

Minsk (dpa) - Nach neuer massiver Polizeigewalt in Belarus
(Weißrussland) mit einem Toten hat die Präsidentenkandidatin Swetlana
Tichanowskaja sich im EU-Nachbarland Litauen in Sicherheit gebracht.
«Ich will kein Blut und keine Gewalt», sagte die 37-Jährige in einem

am Dienstag veröffentlichten Video. Auf einer Couch sitzend liest sie
die Botschaft ab und blickt kein einziges Mal in die Kamera. Ihr
Wahlkampfstab teilte mit, dass das Video unter Druck der Behörden
entstanden sei. Die größten Proteste in der Geschichte des Landes
gegen die beispiellose Wahlfälschung unter dem seit 26 Jahren
regierenden Präsidenten Alexander Lukaschenko gingen weiter. 200
Verletzte lagen am Dienstag im Krankenhaus, wie Ärzte mitteilten. Das
Innenministerium sprach von 2000 Festnahmen.

«Der Stab hat die Unterstützer und den Machtapparat zum Verzicht auf
Gewalt aufgerufen», sagte Olga Kowalkowa vom Team Tichanowskajas. Der
Kampf gegen «Europas letzten Diktator» gehe aber dennoch weiter.
Offenbar sei Tichanowskaja über Stunden in der Wahlleitung dem Druck
ranghoher Beamter ausgesetzt gewesen und zu der Mitteilung an ihre
Unterstützer, keinen Widerstand mehr zu leisten, gezwungen worden.
Tichanowskaja gelte weiter als Siegerin der Präsidentenwahl vom
Sonntag, sagte Kowalkowa.

Beschäftigte in mehreren Staatsbetrieben, darunter in eine
Metallfabrik, folgten Aufrufen der Opposition, von Dienstag an die
Arbeit niederzulegen. Der Streik in den Betrieben, die zum
Funktionieren der Ex-Sowjetrepublik beitragen, soll den Machtapparat
von Lukaschenko brechen.

Zuvor hatte es in der zweiten Protestnacht zum Dienstag erneut viele
Verletzte gegeben. Auf vielen Videos war zu sehen, wie Männer in
schwarzen Uniformen mit Knüppeln wahllos auf friedliche Bürger
einprügelten. Die Polizei setzte erneut Gummigeschosse, Wasserwerfer
und Blendgranaten gegen Demonstranten ein. Die Verletzten zeigten auf
Bildern und Videos ihre mit Blut überströmten Gesichter und Körper.

Das Land zwischen EU-Mitglied Polen und Russland hat noch nie solche
Ausschreitungen erlebt. Die von Tichanowskajas Mann Sergej vor seiner
Inhaftierung gegründete Bewegung Ein Land zum Leben (Strana dlja
Schisni) schrieb nach siebenstündigen Kundgebungen: «Das war ein
historischer Abend». Die Tage Lukaschenkos seien gezählt, weil er
Krieg gegen sein Volk führe.

Nach Darstellung der Behörden soll auch ein Sprengsatz in der Hand
eines Mannes explodiert sein, den er auf Spezialeinheiten der Polizei
werfen wollte. Überprüfbar war das nicht. In einem anderen Video war
zu sehen, wie ein Uniformierter auf einer Kreuzung womöglich
absichtlich von einem Auto angefahren wurde.

Die Lage war nach Protesten in mehr als 30 Städten des Landes
insgesamt unübersichtlich. Das Innenministerium sprach am Dienstag
von 2000 Festnahmen und 20 verletzten Sicherheitskräften. Lukaschenko
hatte auch mit dem Einsatz der Armee gedroht, um sich nach mehr als
einem Vierteljahrhundert an der Macht eine sechste Amtszeit zu
sichern. In sozialen Netzwerken kursierten aber auch Fotos von
Uniformierten, die sich demonstrativ auf die Seite der Demonstranten
stellten. Sie wurden als «Helden» gefeiert.

Kommentatoren sprachen zuletzt von der «Geburt der Nation Belarus»,
die sich rund 30 Jahre nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion erst
jetzt so richtig eine Identität gebe - und sich abnabeln wolle vom
großen Nachbarn Russland. Wirtschaftlich ist das Land von Russland
abhängig. Kremlchef Wladimir Putin hatte Lukaschenko zu seinem mit
80,08 Prozent angegebenen Wahlsieg gratuliert. Tichanowskaja wurden
offiziell nur 10,09 Prozent zugesprochen. Ihr Stab geht dagegen von
einem Sieg bei zwischen 70 und 80 Prozent für Tichanowskaja aus.

Die demokratischen Kräfte in Belarus hoffen auf Unterstützung auch
von der Europäischen Union. Doch eine schnelle Reaktivierung von
EU-Sanktionen gegen die Führung von Belarus ist derzeit nicht in
Sicht. Der Sprecher des EU-Außenbeauftragten Josep Borrell sagte,
dass nach der umstrittenen Wahl zunächst eine Lagebeurteilung nötig
sei. Der litauische Außenminister Linas Linkevicius teilte im
Kurznachrichtendienst Twitter mit, dass Tichanowskaja in dem EU-Land
in Sicherheit und versorgt sei und bleiben dürfe.

Sie habe sich als Mutter dafür entschieden, bei ihren Kindern in
Litauen zu sein, sagte Tichanowskaja in einem weiteren, bereits dort
aufgenommenen Video. Sie war zur Wahl als Kandidatin angetreten, weil
ihr Mann Sergej als politischer Gefangener inhaftiert ist. «Viele
werden mich verstehen, mich verurteilen oder hassen. Aber Gott
bewahre, dass die je vor so einer Wahl stehen müssen, wie ich es
musste», sagte sie. Die Staatsmedien in Belarus legten ihr das als
Schwäche und Niederlage aus.

Tichanowskaja wolle vom sicheren Ausland aus weiter aktiv sein und
ihren Sieg mit demokratischen Mitteln verteidigen, sagte ihre
Vertraute Kowalkowa dem Internetportal tut.by zufolge. Die
belarussischen Behörden selbst hätten die Kandidatin außer Landes
gebracht. «Sie hatte keine Wahl. Wichtig ist, dass sie in Freiheit
und am Leben ist.» Tichanowskaja habe mit ihrer Flucht auch die
Freilassung ihrer Wahlkampfleiterin Maria Moros erreicht. Moros sei
eine «Geisel» gewesen, beide reisten demnach gemeinsam aus.

Experten gingen zunächst nicht davon aus, dass die Ausreise
Tichanowskajas zu einem Abflauen der Proteste führen wird. «Sie ist
vor allem die Symbolfigur und kann auch aus dem Ausland mit Videos
Botschaften senden», sagte die belarussische Expertin Maryna Rakhlei
der Deutschen Presse-Agentur. Tichanowskaja sei zuletzt Gefahr
gelaufen, verhaftet und wegen der Zerstörungen und Gewalt mit Toten
und Verletzten angeklagt zu werden.

International gab es Appelle für ein Ende der Gewalt in Belarus. Die
Außenminister von Lettland, Polen, Finnland und Estland forderten bei
einer Pressekonferenz in Riga die Freilassung der Gefangenen und eine
friedliche Lösung der Krise. Sie unterstützten einen Vorschlag
Polens, auf EU-Ebene ein Treffen zu Belarus einzuberufen.