Menschenketten in Belarus gegen den «letzten Diktator Europas»

13.08.2020 16:19

In Belarus wächst der Druck auf Staatschef Lukaschenko. Inzwischen
streiken Mitarbeiter von Staatsbetrieben. Das könnte die Wirtschaft
hart treffen. Die Proteste im Land gehen weiter.

Minsk (dpa) - Fünf Tage nach der umstrittenen Präsidentenwahl
in Belarus (Weißrussland) sind am Donnerstag Menschen in vielen
Staatsbetrieben in einen Streik gegen Staatschef Alexander
Lukaschenko getreten. In der Hauptstadt Minsk und anderen Städten des
Landes versammelten sich Mitarbeiter und forderten, dass Swetlana
Tichanowskaja als die wahre Siegerin der Präsidentschaftswahl vom
Sonntag anerkannt wird. Tausende Frauen mit Blumen in den Händen
bildeten auf Straßen Menschenketten, wie mehrere Medien in Belarus
berichteten. Auf Plakaten war etwa «Blumen statt Gewehrkugeln» zu
lesen. Demonstranten forderten Lukaschenko zum Rücktritt auf.

Der 65-Jährige schwieg am Donnerstag zunächst zu den Protesten.
Unklar war, wie sich die Lage in dem Land zwischen Russland und dem
EU-Mitglied Polen weiter entwickelt. Ein Massenstreik in Unternehmen
könnte dem wirtschaftlich angeschlagenen Land schwer schaden.
Mitarbeiter des Automobilwerks BelAZ verlangten Berichten zufolge,
dass die dort produzierten Fahrzeuge nicht an die Polizei geliefert
werden sollten, die zuletzt brutal gegen Demonstranten vorging.

In der Nacht war es zum vierten Mal in Folge zu Protesten gekommen.
Nach Meinung von Beobachtern kam es dabei zu weniger Polizei-Gewalt
als in den Vortagen. Dennoch nahmen Sicherheitskräfte dem
Innenministerium zufolge rund 700 Demonstranten fest. Damit steigt
die Zahl der Festgenommenen auf nunmehr fast 7000. Vor Gefängnissen
forderten viele Menschen friedlich die Freilassung ihre Angehörigen.
Wie viele der Festgenommenen bereits wieder frei sind, ist unklar.

Das Menschenrechtszentrum Wesna (Frühling) beklagte erneut
«übermäßige Polizeigewalt». Es seien Gummigeschosse und Blendgran
aten
auf friedliche Demonstranten abgefeuert worden. Die Uniformierten
hätten in mehr als zehn Städten des Landes Proteste gewaltsam
aufgelöst. Die Polizei in der Stadt Gomel bestätigte den Tod eines
25-Jährigen, der seiner Mutter zufolge am Sonntag auf dem Weg zu
seiner Freundin festgenommen worden war und im Krankenhaus starb.

Außenminister Heiko Maas kündigte indes deutlich mehr Druck auf den
Machtapparat in Minsk an. Mit den Partnern werde intensiv über neue
Sanktionen gesprochen, sagte der SPD-Politiker einen Tag vor der
geplanten Sondersitzung der EU-Außenminister zu Belarus. Es sei
vollkommen klar, dass das Vorgehen der Sicherheitskräfte in Belarus
«im Europa des 21. Jahrhundert nicht akzeptabel ist». Strafmaßnahmen

müssen aber von allen EU-Mitgliedstaaten einstimmig mitgetragen
werden.

Russland geht von einer baldigen Beruhigung der Lage aus. «Wir
rechnen eigentlich damit, dass sich die Situation im Land bald wieder
normalisiert und ruhig wird», sagte die Sprecherin des russischen
Außenministeriums, Maria Sacharowa, in Moskau. Russland rufe alle zur
Zurückhaltung und Besonnenheit auf. Bislang hat sich Moskau kaum zu
den Ereignissen in der Ex-Sowjetrepublik geäußert. Belarus ist
wirtschaftlich massiv abhängig vom Dauerverbündeten Russland.
Sacharowa betonte, dass das Ausland die Proteste anheize.

Der Journalistenverband von Belarus sprach von massiver Gewalt gegen
Medienschaffende. Mehr als 60 Journalisten seien in den vergangenen
Tagen festgenommen worden. Derweil kündigen immer mehr prominente
Mitarbeiter von Staatsmedien aus Protest. Darunter ist der prominente
Moderator des Staatsfernsehens, Jewgeni Perlin, der angesichts der
«Lügen» und «Gewalt» seinen gut bezahlten Posten hinwarf.

Bei Telegram kursierten viele Videos, auf denen Männer aus Protest
gegen die Gewalt an Demonstranten ihre Uniformen verbrannten oder in
dem Müll warfen oder demonstrativ die Staatsembleme abrissen. Zu
sehen waren auch Familienväter, die ihre Kollegen zum Gewaltverzicht
aufriefen. Die Echtheit dieser Videos lässt sich nicht überprüfen.

Seit der Präsidentenwahl am Sonntag kommt es jeden Tag zu blutigen
Protesten mit vielen Verletzten. Die Wahlkommission hatte Lukaschenko
80,08 Prozent der Stimmen zugesprochen. Seine Gegner sehen dagegen
die 37 Jahre alte Kandidatin Tichanowskaja als Siegerin. Sie ist
unter dem Druck der Behörden in das EU-Land Litauen geflohen.