Neue Proteste gegen Lukaschenko trotz Freilassung von Gefangenen

14.08.2020 10:25

Mit der Freilassung Hunderter Gefangener in Belarus kommt der
autoritäre Präsident Lukaschenko erstmals EU-Forderungen entgegen.
Die Menschen berichten von schwersten Misshandlungen im Gefängnis.
Und die Proteste gegen «Europas letzten Diktator» gehen weiter.

Minsk (dpa) - Nach der Freilassung vieler Gefangener in Belarus
(Weißrussland) haben in dem Land neue Proteste gegen Gewalt und
Willkür unter Präsident Alexander Lukaschenko begonnen. Hunderte
Ärzte und Frauen bildeten am Freitagmorgen in der Hauptstadt Minsk
Menschenketten, um gegen das brutale Vorgehen der Sicherheitskräfte
gegen friedliche Kundgebungen zu demonstrieren. Die Proteste richten
sich gegen den 65-jährigen Lukaschenko. Der Staatschef hatte sich
nach 26 Jahren an der Macht bei der Wahl am Sonntag mit rund
80 Prozent der Stimmen zum sechsten Mal in Folge zum Sieger ausrufen
lassen. Am Nachmittag wollen die EU-Außenminister bei einer
Videokonferenz über die Lage in der Ex-Sowjetrepublik beraten.

Ein großer Teil der Bevölkerung hält die 37 Jahre alte
Lukaschenko-Gegnerin Swetlana Tichanowskaja für die eigentliche
Gewinnerin der Abstimmung. Sie ist aus Angst um ihre Sicherheit und
die ihrer Kinder in das benachbarte EU-Land Litauen geflüchtet. In
Russland, das wirtschaftlich eng mit Belarus verbunden ist, wurden
erstmals Rufe nach einer Vermittlerrolle Moskaus laut.

Der russisch-belarussischer Handelsrat forderte in einem offenen
Brief ein Ende des «sinnlosen Blutvergießens und der Gewalt gegen
friedliche Bürger». Es müsse ein Komitee zur nationalen Rettung aus
Intelligenz und Wirtschaft gebildet werden für einen Ausweg aus der
politischen Krise, hieß es. Russland gilt als das Land mit dem
größten Einfluss in der Ex-Sowjetrepublik. Allerdings unterstützt
auch die EU mit ihrem Programm der östlichen Partnerschaft die
Entwicklung des zwischen Polen und Russland gelegenen Staates.

Arbeiter in Staatsbetrieben traten am Morgen erneut in den Streik
gegen den Machtapparat. Der Druck auf Lukaschenko ist damit nach
Meinung von Beobachtern weiter gewachsen. Der Staatschef wollte sich
noch am Freitag in einer Rede an die Nation zur Lage äußern, wie eine
Sprecherin der Präsidialverwaltung sagte. Es mehren sich Stimmen von
Experten, die meinen, dass Lukaschenkos Tage im Amt gezählt sein
könnten.

In der Nacht zum Freitag hatten die Behörden viele der rund 7000 im
Zuge der Proteste festgenommenen Bürger wieder auf freien Fuß
gesetzt. Tausende wurden aber weiter in den Gefängnissen
festgehalten. Nach ihrer Freilassung berichteten viele Menschen von
schwersten Misshandlungen im Gefängnis. In Videos schilderten Frauen
und Männer, dass sie kaum ernährt und in engsten Zellen stehend
zusammengepfercht worden seien. Viele Bürger zeigten - nur in
Unterwäsche bekleidet - ihre mit Platzwunden und großen blauen
Flecken von Schlägen übersäten Körper.

Mehrere Entlassene mussten wegen der Schwere ihrer Verletzungen
sofort ins Krankenhaus gebracht werden, wie Medien in Minsk
berichteten. Innenminister Juri Karajew entschuldigte sich dafür,
dass bei den Protesten gegen Fälschung der Wahlergebnisse vom Sonntag
auch viele Unbeteiligte festgenommen worden seien. So etwas passiere
aber, meinte er. Bis zum Morgen sollten mehr als 1000 der insgesamt
rund 7000 Gefangenen freigelassen werden. Ein 25-Jähriger war unter
ungeklärten Umständen nach seiner Festnahme am Sonntag gestorben.

Frauen schilderten nach der Freilassung aus dem Gefängnis auf der
Okrestin-Straße in Minsk unter Tränen, dass sie geschlagen worden
seien. In Zellen mit vier Betten seien 35 Frauen gewesen, sagte eine
Freigelassene dem Portal tut.by. «Sie haben mit schrecklicher
Brutalität zugeschlagen», sagte sie. «Überall war viel Blut.»

Es war das erste Mal seit Tagen, dass der Machtapparat unter
Lukaschenko einlenkte. Tausende Menschen hatten auch am Donnerstag
bei den bislang breitesten Protesten den Rücktritt des Präsidenten
gefordert. «Hau ab!», «Freiheit!» und «Es lebe Belarus!», riefe
n
viele Demonstranten. Zuletzt hatte Lukaschenko auch mit dem Einsatz
der Armee gedroht, um sich eine sechste Amtszeit zu sichern. Die
Proteste hatte er als vom Ausland gesteuert kritisiert und die
Demonstranten als Arbeitslose mit krimineller Vergangenheit
beschimpft.