Lukaschenko lässt Gefangene frei - Proteste gehen weiter

14.08.2020 13:15

Mit der Freilassung Hunderter Gefangener in Belarus kommt Präsident
Lukaschenko erstmals EU-Forderungen entgegen. Die Menschen berichten
von schwersten Misshandlungen. Und die Proteste gegen «Europas
letzten Diktator» gehen weiter. Auch Merkel meldet sich zu Wort.

Minsk (dpa) - Trotz der Freilassung Hunderter Demonstranten in
Belarus (Weißrussland) reißen die Proteste gegen Gewalt und Willkür
unter Präsident Alexander Lukaschenko nicht ab. In der Hauptstadt
Minsk bildeten sich lange Menschenketten, mit denen gegen das brutale
Vorgehen der Sicherheitskräfte gegen friedliche Kundgebungen
demonstriert wurde. Auch viele Ärzte waren darunter. Lukaschenko
sagte zu Spekulationen in einigen Medien, er habe das Land bereits
verlassen: «Fürs Erste: Ich bin noch am Leben und nicht im Ausland.»


In der ehemaligen Sowjetrepublik hatte sich der oft als «letzter
Diktator Europas» bezeichnete Präsident am Sonntag zum sechsten Mal
in Folge als Wahlsieger ausrufen lassen - mit rund 80 Prozent der
Stimmen. Daran gibt es erhebliche Zweifel. Seit der Abstimmung kommt
es zu massiven Protesten. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) sprach
von «brutaler Gewalt». Am Nachmittag wollten die EU-Außenminister bei

einer Videokonferenz über die Lage in der Ex-Sowjetrepublik beraten.

Vor dem Treffen sprach sich EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der
Leyen für Strafmaßnahmen gegen Verantwortliche in Belarus aus: «Wir
brauchen zusätzliche Sanktionen gegen diejenigen, die in Belarus
demokratische Werte missachtet oder gegen Menschenrechte verstoßen
haben.» Merkel äußerte sich nach Worten von Regierungssprecher
Steffen Seibert auch «erschüttert» über Berichte, wonach Inhaftiert
e
misshandelt wurden. «Die Aussagen der gepeinigten Menschen belegen ja
leider viele solche Fälle.»

In Belarus hält ein großer Teil der Bevölkerung die
Lukaschenko-Gegnerin Swetlana Tichanowskaja für die eigentliche
Gewinnerin der Abstimmung. Aus Angst um ihre Sicherheit und die ihrer
Kinder ist die 37-Jährige ins benachbarte EU-Land Litauen geflüchtet.
In einer Videobotschaft rief sie zu neuen friedlichen Protesten auf.
«Lasst uns zusammen unsere Stimmen verteidigen.» Am Samstag und
Sonntag sollten sich die Menschen in allen Städten des Landes zu
friedliche Massenversammlungen zusammenfinden.

Am Morgen traten Arbeiter in Staatsbetrieben erneut in den Streik
gegen den Machtapparat. Lukaschenko warnte bei einer
Regierungssitzung vor Arbeitsniederlegungen. «Wenn wir aufhören zu
arbeiten, werden wir die Produktion nie wiederherstellen können»,
sagte er. Nach Einschätzung von Beobachtern könnte ein
flächendeckender Streik in den Betrieben Lukaschenko zu Fall bringen.
Der Druck auf ihn ist nach Meinung von Beobachtern weiter gewachsen.
Es mehren sich Stimmen von Experten, die meinen, dass seine Tage im
Amt gezählt sein könnten.

In der Nacht zum Freitag hatten die Behörden viele der rund 7000 im
Zuge der Proteste festgenommenen Bürger wieder auf freien Fuß
gesetzt. Tausende wurden aber weiter in den Gefängnissen
festgehalten. Nach ihrer Freilassung berichteten viele von schwersten
Misshandlungen im Gefängnis. Die Menschenrechtsorganisation Amnesty
International forderte von der Staatsführung den sofortigen Stopp
jeglicher Gewalt.

In Videos schilderten Frauen und Männer, dass sie kaum zu essen
bekommen hätten und in engsten Zellen stehend zusammengepfercht
worden seien. Viele zeigten - nur in Unterwäsche gekleidet - ihre mit
Platzwunden und großen blauen Flecken von Schlägen übersäten Körp
er.
Frauen berichteten nach der Freilassung aus dem Gefängnis auf der
Okrestin-Straße in Minsk unter Tränen, dass sie geschlagen worden
seien. In Zellen mit vier Betten seien 35 Frauen gewesen, sagte eine
Freigelassene dem Portal tut.by. «Sie haben mit schrecklicher
Brutalität zugeschlagen. Überall war viel Blut.»

Es war das erste Mal seit Tagen, dass der Machtapparat einlenkte.
Tausende hatten auch am Donnerstag bei den bislang breitesten
Protesten den Rücktritt des Präsidenten gefordert. «Hau ab!»,
«Freiheit!» und «Es lebe Belarus!», riefen viele Demonstranten.
Zuletzt hatte Lukaschenko auch mit dem Einsatz der Armee gedroht.

In Russland, das wirtschaftlich eng mit Belarus verbunden ist, wurden
Rufe nach einer Vermittlerrolle Moskaus laut. Der
russisch-belarussische Handelsrat forderte ein Ende des «sinnlosen
Blutvergießens und der Gewalt gegen friedliche Bürger». Es müsse ei
n
Komitee zur nationalen Rettung aus Intellektuellen und Wirtschaft
gebildet werden. Russland gilt als das Land mit dem größten Einfluss
in der Ex-Sowjetrepublik. Allerdings unterstützt auch die EU die
Entwicklung des zwischen Polen und Russland gelegenen Staates.