«Überall Blut» - Aufstand gegen «Europas letzten Diktator» wäch st Von Ulf Mauder, dpa

14.08.2020 16:21

Belarus ist im Aufruhr gegen «Europas letzten Diktator». Erstmals
lässt Lukaschenko Demonstranten frei. Aber das Entsetzen über das,
was die Verletzten berichten, ist groß. Die Proteste nehmen sogar
noch zu - auch, weil sich eine Frau wieder zu Wort meldet.

Minsk (dpa) - Die Gefängnisse im Land von «Europas letztem Diktator»

gelten seit langem als Folteranstalten. Doch was die Menschen in
Belarus nun zu sehen bekommen, übertrifft schlimmste Befürchtungen.
Im Nachrichtenkanal Telegram zeigen Männer in Unterhosen ihre Beine,
mit großflächigen Blutergüssen übersät. Blutende Striemen auf R
ücken.
Rot und blau geprügelte Hinterteile. Nach ihrer Freilassung aus dem
Gefängnis an der Okrestin-Straße in der Hauptstadt Minsk gibt es aber
auch Tränen der Erleichterung über das Wiedersehen mit Angehörigen.


Vieles muss noch geprüft werden. Das macht auch die
Menschenrechtsorganisation Amnesty International deutlich. Aber
Zeugenaussagen deuten darauf hin, dass es eine Kampagne weit
verbreiteter Folter und Misshandlungen gibt. Die Organisation beklagt
seit Jahren Missstände in den Haftanstalten der ehemaligen
Sowjetrepublik, ebenso wie die Todesstrafe, die per Genickschuss
vollstreckt wird. Aber so viel Gewalt wurde noch nie dokumentiert.

Ein junger Mann namens Jewgeni berichtet, wie er am Dienstag
abtransportiert und dann in einer Zelle auf 25 Quadratmetern mit
Dutzenden Leidensgenossen zusammengepfercht worden sei. Ein anderer
erzählt, dass die Gefangenen um 9.00 Uhr morgens Wasser verlangt und
erst gegen Mitternacht bekommen hätten. 12 Liter für 124 Menschen.
«Niemand durfte aufs Klo, schlafen mussten wir im Stehen», sagt er in
die Kameras.

Ein anderer berichtet, wie Richter («Ich bezweifle, dass es welche
waren») im Eilverfahren noch im Gefängnis Strafen verhängten.
Freigelassene Demonstranten betonen auf Nachfragen auch, dass sie
nicht - wie von Lukaschenko behauptet - vom Ausland bezahlt seien.
Und weisen zurück, dass russische Einsatzkräfte als Schlägertrupps
zur Unterstützung der belarussischen Sonderpolizei OMON und des
Geheimdienstes KGB im Einsatz seien.

Frauen schildern unter Tränen, dass sie geschlagen worden seien. In
Zellen mit vier Betten seien 35 Frauen gewesen, erzählt eine
Freigelassene dem Portal tut.by. «Sie haben mit schrecklicher
Brutalität zugeschlagen. Überall war viel Blut.» Es gibt viele
solcher Schilderungen. Etwa 2000 von insgesamt 7000 Gefangenen kommen
am Freitag nach offiziellen Angaben frei. Abgesehen davon zeigt
Lukaschenkos Machtapparat kein Einlenken.

«Ich bin noch am Leben und nicht im Ausland», sagt der 65-jährige bei

einer Sitzung seines Kabinetts. Unbeeindruckt von den Protesten lässt
er das amtliche Endergebnis der Wahl vom Sonntag verkünden: 80,1
Prozent für sich selbst. Lediglich 10,1 Prozent für seine Gegnerin
Swetlana Tichanowskaja, deren Unterstützer sie als Gewinnerin der
Wahl sehen. Die 37-Jährige ruft nach ihrer erzwungenen Ausreise ins
EU-Nachbarland Litauen auf, weiter friedlich um die Anerkennung ihres
Sieges zu kämpfen.

Die Gewalt der Polizei gegen friedliche Bürger, die Beweise für
Wahlbetrug haben die Stimmung im Land aufgeheizt. «Aber nichts
beeindruckt Lukaschenko mehr als die Streiks in den Staatsbetrieben,
die zu einer echten Gefahr für seinen Machterhalt werden», sagt die
Politologin Maryna Rakhlei der Deutschen Presse-Agentur. Wie sie
gehen inzwischen viele Experten davon aus, dass sich Lukaschenko
angesichts der Wut der Bürger wegen des Wahlbetrugs und der vielen
Verletzten und bisher zwei Toten nicht an der Macht halten kann.

«Möglich ist aber weiterhin, dass er versucht, eine Militärdiktatur
zu errichten», sagt Rakhlei. Lukaschenko hatte im Wahlkampf immer
wieder betont, dass er notfalls die Armee einsetzen werde, um sich
die sechste Amtszeit zu sichern. In sozialen Netzwerken gibt es neue
Bilder von Militärfahrzeugen an den Zufahrten nach Minsk. Rakhlei
weist darauf hin, dass Lukaschenko in 26 Jahren an der Macht einen
mächtigen Apparat zur Niederschlagung von Aufständen geschaffen habe.

«In einem Land, das die Erinnerung an die vielen Opfer des Zweiten
Weltkrieges so hoch hält, wo der Faschismus ein großes Trauma
hinterlassen hat, trifft diese Brutalität die Menschen besonders
hart», sagt Rakhlei. «Das ist für sie unverzeihlich.»

Die Hoffnung der Menschen ruhe nun auf der Opposition um
Tichanowskaja, die eine klare Linie verfolge: Rücktritt Lukaschenkos,
dann Freilassung der letzten politischen Gefangenen und Neuwahlen
unter Beteiligung der nicht zugelassenen Kandidaten. Viktor Babariko,
der als früherer Chef einer russischen Bank in Haft sitzt, und der
gut vernetzte IT-Unternehmer Waleri Zepkalo, der nach Russland
geflohen ist, stünden für diesen Neuanfang bereit.