Erste Intensivstationen in Europa überlastet - WHO mahnt zur Vorsicht Von Silvia Kusidlo, Michael Winde und Gaby Mahlberg, dpa

27.10.2020 15:54

Zu wenig Intensivbetten, Mangel an Personal: Viele Ländern scheinen
dem Ansturm der Corona-Patienten nicht mehr lange standhalten zu
können. Auch die WHO warnt vor Überlastungen der Krankenhäuser.

Genf/London/Brüssel (dpa) - Angesichts rapide steigender
Corona-Infektionen hat die Weltgesundheitsorganisation (WHO) vor
einer Überlastung von Intensivstationen vor allem in Europa und
Nordamerika gewarnt. «Viele Länder auf der Nordhalbkugel sehen
derzeit einen besorgniserregenden Anstieg von Fällen und Einweisungen
ins Krankenhaus», sagte WHO-Chef Tedros Adhanom Ghebreyesus in Genf.
An einigen Orten füllten sich die Intensivstationen schnell.

Wie eine Umfrage der Deutschen Presse-Agentur am Dienstag ergab, sind
teils die Kapazitätsgrenzen sogar schon erreicht. Dies gilt unter
anderem für Regionen in Belgien, Großbritannien und Tschechien.

So sind in der belgischen Provinz Lüttich Dutzende Ärzte und Pfleger
in den völlig überlasteten Kliniken nach Angaben von Gewerkschaftern
trotz Corona-Infektion im Dienst. «Wir müssen wählen zwischen einer
schlechten und einer sehr schlechten Lösung», sagte Philippe Devos
vom Verband der medizinischen Gewerkschaften der Deutschen
Presse-Agentur. Die sehr schlechte Lösung sei, Patienten gar nicht zu
behandeln. Belgien ist nach Angaben der EU-Seuchenbehörde ECDC
EU-weit das Land mit den meisten Corona-Infektionen binnen 14 Tagen
pro 100 000 Einwohner - dieser Wert lag am Dienstag bei 1390,9.
Patienten wurden auch über die deutsche Grenze nach Aachen verlegt.

Auch in Großbritannien ist die Lage sehr angespannt. Die Kapazität
erster Kliniken etwa im Großraum Manchester ist Medienberichten
zufolge erschöpft. Das Problem: Der staatliche Gesundheitsdienst
NHS ist chronisch unterfinanziert. Schon bei einer Grippewelle im
Winter können viele Kliniken dem Ansturm der Patienten nicht Herr
werden. Tausende Operationen wurden bereits abgesagt, die Regierung
ließ mehrere provisorische Kliniken errichten. Schon während der
ersten Ausbruchswelle starben viele Ärzte und Krankenpfleger. Da es
nicht ausreichend Schutzkleidung und Masken gab, hatten einige sogar
versucht, sich mit Müllbeuteln gegen das Virus zu wappnen. An Tests
mangelt es noch heute. Nach Angaben der Statistikbehörde gibt es über
61 000 Totenscheine, auf denen eine Corona-Infektion vermerkt ist.

Tschechien hat drastische Maßnahmen wie eine nächtliche
Ausgangssperre beschlossen, um eine innerhalb von zwei Wochen
erwartete Überlastung der Krankenhäuser doch noch zu verhindern. Das
Gesundheitsministerium ordnete an, in allen Kliniken planbare
Operationen zu verschieben. Von den insgesamt knapp 4000
Intensivbetten sind nur noch rund 1100 für Covid-Erkrankte und alle
anderen Patienten verfügbar. Große Sorgen bereitet der
Personalmangel. Mehr als 13 000 Mitarbeiter im Gesundheitswesen haben
sich nach Angaben der Ärztekammer selbst mit Corona infiziert. Die
meisten arbeiten weiter, wenn sie keine Symptome zeigen.

In Russland ist besonders die Hauptstadt Moskau betroffen, wo auch
provisorische Hospitäler gebaut wurden. Nach offiziellen Zahlen vom
Dienstag wurden dort innerhalb eines Tages mehr als 1200
Covid-19-Kranke in Kliniken gebracht. Aus den Regionen gibt es
Medienberichte, wonach viele Krankenhäuser bereits überlastet sind,
Patienten auf den Fluren behandelt werden und Ärzte fehlen.

Düster sind die Aussichten für die kleinen Länder Litauen und
Lettland. «Wenn es so weitergeht, könnte das Gesundheitssystem, eines
der schwächsten in Europa, in einem Monat zusammenbrechen», sagte
Liene Cipule, Leiterin des Notfalldienstes, bei einer Debatte im
lettischen Parlament. Auch in Ungarn und den Balkanstaaten sorgen
sich Experten, weil das Gesundheitswesen vielerorts unterfinanziert
ist und es an Ärzten und Pflegepersonal mangelt. Jede Abweichung vom
gewohnten Gang könne chaotische Zustände auslösen, heißt es.

In Frankreich ist die Lage insbesondere in Paris und im Südosten des
Landes angespannt. Am Montag waren rund 2770 Schwerkranke auf
Intensivstationen - das ist etwa knapp die Hälfte der
Gesamtkapazität. Auch viele Regionen in Spanien geraten unter Druck.
In Madrid und Aragón sind schon über 40 Prozent der Intensivbetten
mit Covid-19-Patienten belegt. In Italien warnten die Behörden
bereits vor einer «hohen Wahrscheinlichkeit», dass in verschiedenen
Regionen bald die Kapazitäten nicht mehr ausreichen könnten.

In Deutschland mangelt es zwar nicht an Intensivbetten, wohl aber an
Pflegepersonal. Das sagte der Präsident der Deutschen
Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin, Uwe
Janssens, den Zeitungen der Funke Mediengruppe (Dienstag). Es gebe
inzwischen zwar «ausreichend Kapazitäten an freien Intensivbetten und
Beatmungsgeräten». Das allein helfe aber nicht weiter, «wenn wir kein

Personal haben, um die Patienten zu versorgen». Hierin liege «das
viel größere Problem». Grob geschätzt fehlten bundesweit 3500 bis
4000 Fachkräfte für die Intensivpflege, sagte Janssens.

Die Covid-Taskforce der Schweizer Regierung schätzt nach einem
Medienbericht, dass die Intensivbetten Mitte November voll belegt
sein werden, falls die Ansteckungen weiter so zunehmen. In Österreich
gibt es noch Platz auf den Intensivstationen: Von den rund 2500
Intensivbetten stehen der Gesundheitsbehörde Ages zufolge rund 840
für Corona-Patienten bereit, von denen am Dienstag 203 belegt waren.

Die niederländischen Krankenhäuser können dem Druck durch die
steigende Patientenzahl kaum standhalten. Viele Operationen wurden
abgesagt. Etwa jedes zweite Bett auf Intensivstationen ist inzwischen
mit einem Covid-19-Patienten belegt. Die ersten zwei Patienten wurden
bereits nach Münster ausgeflogen. Weitere sollen folgen.

Deutlich entspannter ist die Lage in den fünf nordischen Ländern
Dänemark, Schweden, Norwegen, Finnland und Island. Ein leitender Arzt
sagte, dass weiter massig Platz in den dänischen Krankenhäusern sei.

Seit Beginn der Pandemie sind weltweit mehr als 40 Millionen
Infektionen nachgewiesen worden. Mehr als eine Million Menschen sind
in Zusammenhang mit einer Covid-19-Erkrankung gestorben.

Der WHO-Chef äußerte Verständnis dafür, dass viele Menschen eine
«Pandemie-Müdigkeit» fühlten. Die psychische und physische Belastun
g
durch das Arbeiten von zu Hause sowie die Distanz zu Freunden und
Familie sei hoch. Dennoch dürften die Menschen nicht aufgeben. Vor
allem aber müssten die Gesundheitssysteme geschützt werden und die
Menschen, die für sie arbeiteten. Die WHO rief die Menschen dazu auf,
alle Vorsichtsmaßnahmen zu treffen, um Ansteckungen zu vermeiden. Nur
so könnten auch weitere Lockdowns vermieden werden.