Höhere Mindestlöhne in Deutschland - Brüssel plant neue Regeln

28.10.2020 16:24

Arbeitnehmer sollen überall in Europa «angemessen» von ihren
Einkommen leben können - das Ziel verfolgt die EU-Kommission mit
einer neuen Richtlinie. Auch die Bundesregierung soll nachsteuern.

Brüssel (dpa) - Arbeitnehmer mit Mindestlohn sollen ab 1. Januar in
Deutschland etwas mehr verdienen. Die Lohnuntergrenze soll von 9,35
auf 9,50 Euro steigen, wie das Bundeskabinett am Mittwoch beschloss.
Künftig könnten geplante EU-Regeln Deutschland zwingen, das System
anzupassen und die Mindestlöhne weiter anzuheben. Den Entwurf einer
Richtlinie mit neuen Vorgaben stellte die EU-Kommission in Brüssel
vor.

Die Anhebung des deutschen Mindestlohns war bereits seit dem Sommer
bekannt und wurde nun vom Kabinett auf den Weg gebracht. Nach dem
geplanten kleinen Schritt Anfang 2021 sollen mehrere weitere folgen:
Zum 1. Juli 2021 wird der Mindestlohn auf brutto 9,60 Euro pro Stunde
angehoben, zum 1. Januar 2022 auf 9,82 und zum 1. Juli 2022 auf 10,45
Euro. Nach den neuen Brüsseler Plänen für «angemessene» Mindestl
öhne
in allen EU-Ländern müsste die Bundesregierung aber wohl nachsteuern.

«Der heutige Vorschlag soll sicherstellen, dass Arbeitnehmer in der
EU durch faire Mindestlöhne geschützt sind, so dass sie ein
anständiges Einkommen verdienen können, wo immer sie sind», sagte
EU-Kommissionsvize Valdis Dombrovskis.

Als «Richtschnur» sieht die EU-Kommission, dass Geringverdiener
überall in der EU mindestens 50 Prozent des Durchschnittslohns oder
60 Prozent des sogenannten Medianlohns im eigenen Land bekommen. Der
Median wird auch mittlerer Lohn genannt und ist eine Rechengröße: 50
Prozent der Arbeitnehmer verdienen mehr, 50 Prozent weniger. In
Deutschland liegt der Mindestlohn nach Angaben der Kommission
zumindest derzeit deutlich unter den genannten Werten.

Darauf verwies auch Bundesarbeitsminister Hubertus Heil, der einen
Mindestlohn von 12 Euro erreichen will. «Fünf Jahre nach der
Einführung entspricht der Mindestlohn immer noch 46 Prozent des
Durchschnittseinkommens», sagte der SPD-Politiker. Die Brüsseler
Pläne für konkrete Mindestlohn-Vorgaben begrüßte er.

Nach dem Entwurf der neuen EU-Richtlinie sollen Deutschland und die
übrigen 20 Staaten mit gesetzlichen Mindestlöhnen neue Kriterien
dafür anlegen, wie die Einkommen «angemessen» gestaltet werden: Sie
sollen Kaufkraft, Größenordnung, Verteilung und Anstieg der
Bruttolöhne sowie die Produktivität heranziehen. In Deutschland hat
die Mindestlohn-Kommission, in der Gewerkschafter, Arbeitnehmer und
Experten sitzen, teils andere Maßstäbe.

Für die EU ist die geplante Regelung der Mindestlöhne heikel: Sie hat
dafür nach den EU-Verträgen kaum Gesetzgebungskompetenz. Die
Kommission plant ausdrücklich keine einheitlichen Lohnuntergrenzen -
zumal Wohlstand und Lebenshaltungskosten sehr unterschiedlich sind.
Und sie will den Regierungen auch keine direkten Vorgaben zu den
Lohnhöhen machen. Vielmehr soll ein Prüfsystem dazu führen, dass die

Mindestlöhne «angemessen» sind und sich die Länder langsam einander

annähern. Derzeit liegt der Mindestlohn in Bulgarien bei 312 Euro im
Monat, während er in Luxemburg 2145 Euro erreicht.

Über den Vorschlag müssen nun die EU-Staaten und das Europaparlament
beraten. Es könnte Jahre dauern, bis er in Kraft tritt. Der
Unternehmerverband Business Europe vermutet Widerstand der EU-Länder
und sieht den Vorschlag selbst kritisch. Auch die Bundesvereinigung
der Deutschen Arbeitgeberverbände erklärte: «Wir lehnen eine
europäische Mindestlohnbürokratie als eine Kompetenzanmaßung der
Europäischen Kommission ab. Die deutsche Politik ist aufgerufen,
diese entschieden zurückzuweisen.»

Der Deutsche Gewerkschaftsbund begrüßte indes, dass die Kommission
auch die Tarifpartner bei der Lohnfindung stärken will. Den Entwurf
der Richtlinie werde man nun genau darauf prüfen.