EZB-Präsidentin Lagarde: Krisenmanagerin in Corona-Zeiten Von Friederike Marx und Jörn Bender, dpa

29.10.2020 15:54

Seit einem Jahr führt Christine Lagarde die Europäische Zentralbank -
als erste Frau in der Geschichte der Notenbank. Die Französin hat
sich viel vorgenommen. Doch die Corona-Krise wirbelt ihre Agenda
durcheinander.

Frankfurt/Main (dpa) - Ein zweiter Mario Draghi will Christine
Lagarde nicht sein. «Ich habe meinen eigenen Stil», betont die
Französin zu Beginn ihrer Amtszeit als Präsidentin der Europäischen
Zentralbank (EZB). Sie will Entscheidungen der Notenbank besser
erklären und die Strategie der Zentralbank überprüfen. Doch die
Coronavirus-Pandemie zwingt die Währungshüter erneut in die Rolle der
geldpolitischen Feuerwehr. Die seit dem 1. November 2019 amtierende
EZB-Präsidentin ist nun als Krisenmanagerin gefordert.

«Als ich mein Amt angetreten habe, hat man mir gesagt, dass nichts
mehr für mich zu tun sei, das alles erledigt sei», sagte die
Juristin, die anders als ihre drei Vorgänger nie an der Spitze einer
nationalen Notenbank stand, jüngst der französischen Zeitung «Le
Monde». «Aber das war eindeutig nicht der Fall!»

Ihr erstes Jahr an der EZB-Spitze sei «unglaublich schnell
vorbeigegangen», sagte Lagarde am Donnerstag. «Es war ein ziemlicher
Ritt und sicher nicht wie erwartet.» Sie fülle die Aufgabe aber mit
Leidenschaft aus.

Ölpreisschock und Börsencrash zu Beginn der Pandemie, gefolgt von
einem historischen Konjunkturabsturz setzen Europas Währungshüter
unter Druck. Mit einem milliardenschweren Notkaufprogramm stemmt sich
die Notenbank gegen die Verwerfungen.

Im Rahmen des Programms PEPP (Pandemic Emergency Purchase Programme)
will die EZB bis mindestens Ende Juni 2021 die gewaltige Summe von
1,35 Billionen Euro in Staats- und Unternehmensanleihen stecken. Und
es könnte noch mehr werden, angesichts wieder steigender
Infektionszahlen und den damit verbundenen Folgen für die Wirtschaft.

Die EZB werde die Entwicklung den Herbst über beobachten, sagte
Lagarde in dem Interview. Sollte sich die Lage eintrüben, könne die
Notenbank gegensteuern. Die geldpolitischen Möglichkeiten seien noch
nicht ausgeschöpft. «Wenn mehr getan werden muss, werden wir mehr
tun», betont die ehemalige Chefin des Internationalen Währungsfonds
(IWF) regelmäßig. «Es gibt für unseren Einsatz für den Euro keine

Grenzen.»

Doch ausgerechnet zu Beginn der Pandemie sorgte Lagarde, die keine
Ökonomin ist, für Verwirrung an den Märkten. Sie strebe kein
«Whatever it takes 2.0» an, sagte sie Anfang März in Anspielung auf
ihren Vorgänger. Draghi hatte im Sommer 2012 mit wenigen Worten die
Eurozone in ihrer bis dato tiefsten Krise stabilisiert: «Die EZB wird
alles tun, um den Euro zu retten» («Whatever it takes»).

Eine Woche nach Lagardes Aussage schnürte die EZB eilends das
Notkaufprogramm PEPP. Gerade einmal ein paar Monate hielt somit
Lagardes kurz vor Amtsantritt formulierte Hoffnung, «niemals» so
etwas wie Draghi sagen zu müssen.

Der ehrgeizige Zeitplan der früheren französischen Wirtschafts- und
Finanzministerin zur Überprüfung der EZB-Strategie («Wir werden jeden

Stein umdrehen.») ist durch die Corona-Krise ins Wanken geraten. Doch
an dem Vorhaben hält Lagarde fest. Sie will die Nebenwirkungen der
seit Jahren ultralockeren Geldpolitik genauer unter die Lupe nehmen.

Bei der ersten Strategieüberprüfung seit 2003 geht es um den
geldpolitischen Werkzeugkasten, die Messung der Inflation und die
Kommunikation der Notenbank. Auch Aspekte wie die Herausforderungen
durch den Klimawandel sollen berücksichtigt werden.

Lagarde sucht dabei auch den Austausch mit Gewerkschaften, Verbänden
und Bürgern. «Wir wollen zuhören, und wir wollen lernen.» Europas
oberste Währungshüterin will besser erklären, was die EZB tut und
warum die Zentralbank es tut. Die Währungshüter sollen sich nicht
hinter der gläsernen Fassade des EZB-Turmes im Osten Frankfurts
verschanzen, sondern präsent sein. «Die EZB steht im Dienst der
europäischen Bürger», betont Lagarde.

Gerade in Deutschland hatte ihr Vorgänger Draghi einen schweren
Stand. Null- und Negativzinsen machen nicht nur Sparern das Leben
schwer, sondern insbesondere Banken und Sparkassen. Europas
Finanzsektor ist mehr als zehn Jahre nach der Finanzkrise nach wie
vor vergleichsweise schwach. Auch im EZB-Rat, dem obersten
Entscheidungsgremium der Notenbank, war Draghis Kurs umstritten.

ING-Chefvolkswirt Carsten Brzeski beschrieb das Jobprofil Lagardes zu
Beginn ihrer Amtszeit so: Eine mögliche Normalisierung der
Geldpolitik, die Wiederbelebung des Team-Geistes im EZB-Rat und die
Vorbereitung der strategischen Überprüfung. Inzwischen - so das
Zwischenfazit des Ökonomen - sei Lagarde durch «die schlimmste
Wirtschaftskrise seit Jahrzehnten gegangen». Und die Krise hält an.