EU-Kommission: «Coronahilfen nicht zu früh zurückfahren»

18.11.2020 16:47

Gegen die tiefe Rezession sollen die EU-Staaten alle Instrumente
nutzen, sagt die EU-Kommission. Dafür sollen vorübergehend auch
Löcher in der Staatskasse in Kauf genommen werden. Allerdings in
Maßen.

Brüssel (dpa) - Wirtschaft stützen, investieren, Jobs schaffen: Wegen
der dramatischen Corona-Krise hat die EU-Kommission die
Mitgliedsstaaten ausdrücklich aufgefordert, ihre Krisenprogramme
keinesfalls zu früh zurückzufahren. Auch 2021 müsse die Wirtschafts-

und Finanzpolitik «unterstützend» bleiben, sagte Kommissionsvize
Valdis Dombrovskis am Mittwoch zur Herbst-Wirtschaftsanalyse.
Trotzdem müssten die Regierungen die Verschuldung im Blick behalten.

Die EU-Kommission prüft regelmäßig im Herbst die Haushaltsentwürfe

der Mitgliedsstaaten und gibt wirtschaftspolitische Empfehlungen.
Dieses «Europäisches Semester» genannte Verfahren soll zu einer
einheitlicheren Wirtschaftspolitik vor allem in der Eurozone führen.
Wegen Corona ist diesmal vieles anders. Das Wichtigste aus dem dicken
Bündel von Ergebnissen im Überblick:

DIE HAUSHALTSLAGE

Wegen der Pandemie-Krise gelten derzeit nicht die üblichen Defizit-
und Verschuldungsregeln - höchstens drei Prozent Defizit und
höchstens 60 Prozent Verschuldung, jeweils gemessen an der
Wirtschaftsleistung. Die meisten der 27 EU-Staaten haben wegen hoher
Ausgaben bei gleichzeitigem Wirtschaftseinbruch riesige Defizite.
Auch Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD) plant für nächstes Jahr
mit 96 Milliarden Euro neuen Schulden.

Dennoch lobt die Kommission die deutsche Haushaltspolitik. Diese
entspreche insgesamt den im Sommer gemeinsam formulierten EU-Zielen.
Scholz sagte dazu: «Unser Kurs stimmt im Kampf gegen Corona». Dank
der Haushaltspolitik verfüge Deutschland «über die finanzielle Kraft,

damit alle, Bürgerinnen und Bürger, Beschäftigte und Unternehmen, gut

durch diese schwere Zeit kommen», betonte der Vizekanzler.

Auch der Internationale Währungsfonds (IWF) stellte Berlin ein gutes
Zeugnis aus: «Deutschland hat die erste Welle der Covid-19-Pandemie
relativ gut gemeistert.» Eine frühzeitige und energische Reaktion der
Politik habe dazu beigetragen, die Folgen abzumildern. Nun müsse es
darum gehen, die Wirtschaft auf einen nachhaltigen Erholungspfad zu
bringen, die Bevölkerung und den Arbeitsmarkt zu schützen und
Unternehmen im Geschäft zu halten, riet der IWF.

Mehr Bedenken hat die EU-Kommission bei den anderen großen
Volkswirtschaften Frankreich, Italien und Spanien. In Frankreich und
Italien bemängelt die Behörde, dass einige der Krisenmaßnahmen nicht

befristet seien. Zudem äußert sie Sorge über die hohe Verschuldung
und mahnt, zumindest mittelfristig die öffentlichen Finanzen stabil
zu halten.

WIRTSCHAFTLICHE SCHIEFLAGE IN DER UNION

Die Pandemie-Krise hat aus Sicht der Kommission die wirtschaftlichen
Unterschiede verschärft. Deutschland - das stets wegen
Exportüberschüssen in der EU ermahnt wird und nun wirtschaftlich auch
etwas besser durch die Pandemie kommt als andere EU-Staaten - soll
gemeinsam mit elf weiteren Ländern auf «makroökonomische
Ungleichgewichte» genauer unter die Lupe genommen werden. Sorge
äußert die Kommission zudem wegen steigender Verschuldungsquoten auch
bei Unternehmen und privaten Haushalten. Die Dynamik bei
Immobilienpreisen könnte sich abschwächen. Banken hätten das Risiko,

dass vermehrt Problemen bei der Tilgung von Krediten auftreten
könnten.

DER ARBEITSMARKT

Während der Pandemie ging die Zahl der Beschäftigten nach Daten der
Kommission von Ende 2019 bis zum zweiten Quartal 2020 um 6,1
Millionen zurück - der schärfste jemals beobachtete Einbruch im Lauf
eines halben Jahres. Besonders hart getroffen hat die Krise junge
Leute, wie Sozialkommissar Nicolas Schmit sagte. Millionen
befristeter Arbeitsverhältnisse seien verloren gegangen. «Diese
Zahlen sind dramatisch», sagte Schmit. Auch die Armut wachse wieder.

DIE GEGENMITTEL

Gegen die befürchtete wachsende Arbeitslosigkeit empfiehlt die
Kommission Investitionen in Weiterbildung und Höherqualifizierung.
Schmit erwähnte explizit die Renovierung von Häusern, die Jobs
schaffen und gleichzeitig den Klimaschutz voranbringen könne.

Zur Finanzierung empfiehlt die Kommission die Nutzung aller
nationalen und auf EU-Ebene vorhandenen Geldtöpfe und Programme. Dazu
zählen die bereits im Frühjahr vereinbarten Hilfen: das
Kurzarbeiterprogramm Sure, Kredite der Investitionsbank und mögliche
Milliardenkredite des Eurorettungsschirms ESM. Und vor allem der
vereinbarte EU-Haushaltsrahmen einschließlich der Corona-Hilfen im
Umfang von 750 Milliarden Euro. Doch sind die Haushaltsbeschlüsse
derzeit durch ein Veto Ungarns und Polens blockiert. Dafür mahnte
Dombrovskis eine rasche Lösung an. Die insgesamt 1,8 Billionen Euro
würden im Kampf gegen die Krise dringend gebraucht.