Neue Grenzkontrollen wegen Corona? Merkel schließt nichts aus Von Michel Winde und Verena Schmitt-Roschmann, dpa

21.01.2021 15:51

Der Schreck aus dem Frühjahr sitzt noch tief: Einseitige Kontrollen
an den Grenzen in Europa sorgten zu Beginn der Corona-Krise nicht nur
für schlechte Stimmung, sondern auch Megastaus. Zum EU-Gipfel ist das
Thema erneut auf dem Tisch.

Brüssel (dpa) - Wegen der gefürchteten neuen Varianten des
Coronavirus schließt Bundeskanzlerin Angela Merkel Kontrollen an den
deutschen Grenzen nicht aus. Deutschland suche aber einen
«kooperativen Ansatz» in der Europäischen Union, sagte die
CDU-Politikerin am Donnerstag vor einem EU-Videogipfel zur
Corona-Lage. Dort sollte es auch um einen einheitlichen
EU-Impfausweis mit möglichen Vorteilen etwa beim Reisen gehen. Zudem
wollen die EU-Staaten die Impfkampagne beschleunigen.

Eigentlich herrscht im Schengenraum, dem 26 europäische Länder
angehören, Bewegungsfreiheit ohne stationäre Grenzkontrollen. Doch
etliche Länder hatten zu Beginn der Pandemie teils unkoordiniert
Grenzen dichtgemacht oder Kontrollen veranlasst. An der
deutschen Grenze zu Polen staute sich der Verkehr teils Dutzende
Kilometer. Verderbliche Waren kamen nicht ans Ziel, Grenzpendler
hatten Probleme, ihren Arbeitsplatz zu erreichen.

Die EU-Kommission fordert deshalb ein abgestimmtes Vorgehen und lehnt
geschlossene Schlagbäume ab. Nur halten sich einige Länder jetzt
schon nicht daran. Nach Angaben der EU-Kommission kontrollieren
derzeit unter anderem Ungarn, Österreich und Dänemark ihre Grenzen.
Und jetzt lösen die in Großbritannien und Südafrika entdeckten
Mutanten des Coronavirus neue Ängste aus, weil sie deutlich
ansteckender als bisherige Varianten sein könnten.

Die EU-Staats- und Regierungschefs wollten sich am Donnerstag
erstmals über die Mutanten austauschen. Das Ziel ist klar: Die
Verbreitung so weit wie möglich bremsen. Merkel sagte, sie erwarte,
dass man sich auf gemeinsame Vorkehrungen bei Einreisen aus
Großbritannien und Südafrika verständigen werde. Deutschland hat fü
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Reisende aus diesen Ländern bereits eine Testpflicht eingeführt. Doch
stehen auch neue Vorgaben an den innereuropäischen Grenzen im Raum -
seien es Testpflichten oder Kontrollen.

Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn warnte dringend vor neuen
Grenzkontrollen oder -schließungen innerhalb der EU. Wenn Pendler zum
Beispiel nicht mehr nach Luxemburg kommen könnten, bräche dort das
Gesundheitswesen zusammen, warnte er im Deutschlandfunk.

Eben diese Pendler sind aus Merkels Sicht jedoch entscheidend. Sie
versicherte, dass der freie Warenverkehr nicht zur Debatte stehe.
Vielmehr gehe es um die Pendler in Grenzregionen. Deutschland werde
dazu beitragen, dass Pendler getestet werden könnten. Dazu sei man
auch mit den Herkunftsländern im Gespräch. Sie könne nicht zusehen,
wenn woanders weniger strikt agiert werde und die Menschen zum
Kaffeetrinken über die Grenzen führen. Mit Blick auf die deutschen
Nachbarländer habe sie aber weniger Bedenken, fügte die Kanzlerin
hinzu.

Die Wirtschaft ist gegen nationale Alleingänge und fürchtet, dass
wieder Waren an den Grenzen steckenbleiben - auch Medikamente oder
Schutzgüter, wie BDI-Präsident Siegfried Russwurm sagte. Auch der
belgische Premier Alexander De Croo will keine neuen Hürden für
Lastwagen oder für Grenzpendler. Er brachte jedoch ins Spiel,
touristische und anderen nicht notwendige Reisen zu verbieten.

Andere wollen schon jetzt die Grundlage für möglichst baldiges und
unkompliziertes Reisen legen. Thema des Videogipfels war deshalb auch
ein möglicher einheitlicher Impfpass - mit daran geknüpften Vorteilen
wie einfacherem Reisen. Vor allem Urlaubsländer wie Spanien,
Griechenland oder Malta dringen darauf. Sie versprechen sich davon
einen Beitrag zur wirtschaftlichen Erholung von den Corona-Folgen.

Merkel machte jedoch klar, dass eine Debatte über mögliche Rechte für

Geimpfte verführt sei: Derzeit sei ja mangels ausreichender
Impfstoffmengen die Impfung selbst ein Privileg und verbriefte
Vorteile wären somit ein «doppeltes Privileg».

Beim Impfen rumpelt es ohnehin noch in den EU-Staaten. Weil die
Unternehmen Biontech und Pfizer kurzfristig weniger Impfstoff als
geplant liefern können, wurden in Deutschland zum Teil Impftermine
abgesagt. Mittelfristig drängt die EU-Kommission die 27 Staaten
dennoch zu ehrgeizigen Zielen. Bis zum Sommer sollen 70 Prozent der
Erwachsenen in der EU gegen das Virus immunisiert sein, bis März
bereits 80 Prozent der Menschen über 80 Jahre und des Pflege- und
Gesundheitspersonals.

Die Brüsseler Behörde hält das für machbar, zumal bald neue
Impfstoffe auf den Markt kommen sollen. Ende nächster Woche könnte
der Hersteller Astrazeneca die EU-Zulassung bekommen, in den Wochen
danach womöglich die Mittel von Johnson&Johnson und Curevac. Zudem
soll die Produktion der zugelassenen Mittel aufgestockt werden. Ab
April sollen ausreichende Impfstoffmengen zur Verfügung stehen.