EU-Staaten wollen Reisen weiter ausbremsen - aber offene Grenzen Von Michel Winde und Verena Schmitt-Roschmann, dpa

21.01.2021 23:30

Die zuerst in Großbritannien und Südafrika entdeckten, hoch
ansteckenden Mutationen des Coronavirus bereiten der EU großes
Kopfzerbrechen. Jetzt steuert die Staatengemeinschaft nochmals gegen.

Brüssel (dpa) - Im Kampf gegen die Corona-Pandemie wollen die 27
EU-Staaten nicht notwendige Reisen weiter einschränken. Doch sollen
die europäischen Grenzen für Waren und Pendler möglichst offen
bleiben. Dies berichtete EU-Ratschef Charles Michel am
Donnerstagabend nach einem EU-Videogipfel. Die gefürchteten neuen
Virusvarianten sollen gezielter aufgespürt werden und die
Impfkampagne besser in Schwung kommen. Es soll einen EU-Impfpass
geben, aber vorerst keine Vorteile für Geimpfte etwa beim Reisen.

Michel sagte, die Mitgliedsstaaten seien sehr besorgt über die neuen,
ansteckenderen Virusvarianten. Deshalb müssten die Beschränkungen
aufrecht erhalten und in einigen Fällen womöglich verschärft werden.

Die Grenzen müssten jedoch offen bleiben, damit der Binnenmarkt
weiter funktionieren könne, fügte Michel hinzu.

EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen erläuterte, ihre Behörde
wolle eine Erweiterung der bereits bestehenden Corona-Ampel-Karte
vorschlagen. Demnach soll für Regionen, in denen sich das Coronavirus
sehr stark verbreitet, eine neue «dunkelrote» Kategorie eingeführt
werden. Auf der bestehenden Karte werden Regionen auf Grundlage
gemeinsamer Kriterien je nach Infektionsgeschehen schon jetzt
entweder grün, orange oder rot markiert.

Von Personen, die künftig aus den dunkelroten Zonen verreisen wollen,
könne vor der Abreise ein Test verlangt werden sowie Quarantäne nach
der Ankunft, sagte von der Leyen. Von nicht notwendigen Reisen solle
dringend abgeraten werden. Ein Verbot nicht notwendiger Reisen - wie
etwa in Belgien diskutiert - ist nicht vorgesehen. Allerdings kann
ohnehin jedes Land für sich selbst entscheiden.

Zu den in der EU erst langsam angelaufenen Impfungen sagte Michel,
die Staats- und Regierungschefs wollten eine Beschleunigung. Es solle
aber bei dem Prinzip bleiben, dass die Impfstoffe in der EU
gleichzeitig und nach Bevölkerungsstärke verteilt werden.

Bundeskanzlerin Angela Merkel hatte vor dem Gipfel für eine engere
Kooperation mit den EU-Staaten geworben, aber auch Kontrollen an den
deutschen Grenzen nicht völlig ausgeschlossen. «Wenn ein Land mit
einer vielleicht doppelt so hohen Inzidenz wie Deutschland alle
Geschäfte aufmacht, während sie bei uns noch geschlossen sind, dann
hat man natürlich ein Problem», sagte sie in Berlin.

Eigentlich herrscht im Schengenraum, dem 26 europäische Länder
angehören, Bewegungsfreiheit ohne stationäre Grenzkontrollen. Doch
etliche Länder hatten zu Beginn der Pandemie teils unkoordiniert
Grenzen dichtgemacht oder Kontrollen veranlasst. An der deutschen
Grenze zu Polen staute sich der Verkehr teils Dutzende Kilometer.
Verderbliche Waren kamen nicht ans Ziel, Grenzpendler hatten
Probleme, ihren Arbeitsplatz zu erreichen.

Die EU-Kommission will eine Wiederholung unbedingt vermeiden. Einige
Länder kontrollieren aber bereits wieder an ihren Grenzen, darunter
Ungarn, Österreich und Dänemark. Die in Großbritannien und Südafrik
a
entdeckten Virus-Mutationen haben neue Ängste ausgelöst, weil sie
ansteckender als bisherige Varianten sein könnten.

Grenzkontrollen oder -schließungen innerhalb der EU lehnte Luxemburgs
Außenminister Jean Asselborn strikt ab. Wenn Pendler zum Beispiel
nicht mehr nach Luxemburg kommen könnten, bräche dort das
Gesundheitswesen zusammen, warnte er im Deutschlandfunk. Deutschland
dringt darauf, dass Pendler häufiger getestet werden. Dazu sei man
auch mit den Herkunftsländern im Gespräch, sagte Merkel.

Beim Impfen rumpelt es noch in vielen EU-Staaten. Beim Videogipfel
habe es viele Fragen zur Transparenz und zu Lieferplänen für die
verschiedenen Impfstoffe gegeben, berichtete ein EU-Vertreter. Weil
die Unternehmen Biontech und Pfizer kurzfristig weniger Impfstoff als
geplant liefern können, wurden in Deutschland zum Teil Impftermine
abgesagt.

Der österreichische Kanzler Sebastian Kurz schrieb auf Twitter, beim
Videogipfel seien sich alle einig gewesen, dass Impfstoffe so schnell
wie möglich ausgeliefert werden müssten. Er erwarte die Zulassung des
Impfstoffs von Astrazeneca spätestens nächste Woche.

Die EU-Kommission erwartet ebenfalls bald neue Impfstoffe und größere

Mengen und drängt die 27 Staaten zu ehrgeizigen Zielen. Bis zum
Sommer sollen 70 Prozent der Erwachsenen in der EU gegen das Virus
immunisiert sein, bis März bereits 80 Prozent der Menschen über 80
Jahre und des Pflege- und Gesundheitspersonals. Merkel äußerte sich
zurückhaltend. Die Kanzlerin bekräftigte lediglich, dass man allen in
Deutschland bis zum Ende des Sommers - also bis zum 21. September -
ein Impfangebot machen wolle.