Die EU in der Corona-Krise: Zu zaghaft, zu langsam, zu eigensinnig? Von Verena Schmitt-Roschmann und Michel Winde, dpa

25.02.2021 21:28

In der Jahrhundertkrise agiert die Europäische Union unglücklich. Die
EU-Kommission versucht sich zwar als ordnende Hand, doch scheren
Länder wie Deutschland immer wieder aus gemeinsamen Beschlüssen aus.
Für eine Pandemie ist die EU nicht richtig aufgestellt.

Brüssel (dpa) - Impfen, testen, reisen - seit einem Jahr ringt die
Europäische Union immer wieder neu um eine gemeinsame Linie im Kampf
gegen die Corona-Pandemie. Beim Videogipfel am Donnerstag mussten die
Staats- und Regierungschefs erstmal den Groll über Impfstoffknappheit
und Alleingänge bei Grenzkontrollen beiseiteschieben. Dann setzten
sie erneut die Botschaft: Wir 27 ziehen künftig an einem Strang. Und
zwar in dieselbe Richtung.

Ob das diesmal besser klappt als all die Male vorher, ist nicht
ausgemacht. Denn die EU ist nicht optimal gewappnet für diese
Jahrhundertkrise - zu schwache Strukturen, zu viel Kompetenzgerangel,
zu viel Eigensinn. Oder wie es der Ökonom Guntram Wolff vom Brüsseler
Bruegel-Institut sagt: «Die EU hat das Rennen begonnen ohne das
Rennauto.» Die EU-Kommission hat viel Prügel bezogen, weil
Corona-Impfstoff fehlte. Aber auch die EU-Staaten waren sich oft nur
am Konferenztisch einig - und machten dann doch auf eigene Faust, was
sie für richtig hielten.

Jüngstes Beispiel ist der Grenzstreit mit Deutschland. Geschlossene
Grenzen und Megastaus mitten Europa - nach dem Chaos zu Beginn der
Corona-Krise wollten das eigentlich alle verhindern. Doch dann kamen
die Virusvarianten. Noch Ende Januar einigten sich die EU-Staaten
beim Reisen auf gemeinsame Empfehlungen. Doch war da schon klar, dass
Deutschland seinen eigenen Weg gehen würde. Mittlerweile gelten etwa
für Tschechien, die Slowakei und weite Teile Tirols Einreiseregeln,
die über die EU-Empfehlungen deutlich hinausgehen.

Auch andere Länder scheren sich aus Sicht der EU-Kommission zu wenig
um die gemeinsamen Beschlüsse. Dabei argumentiert die Behörde, dass
der Warenverkehr nicht stocken dürfe und Grenzpendler zur Arbeit
kommen müssten. Wirkliche Bewegung gab es beim Videogipfel am
Donnerstag nicht. Bundeskanzlerin Angela Merkel versicherte aber
immerhin, Deutschland werde alles daran setzen, den freien
Warenverkehr möglich zu machen und Pendler arbeiten zu lassen.

Weiteres Beispiel: der gemeinsame Corona-Impfausweis. Das Ziel
formulierten die EU-Staaten schon beim Gipfel im Dezember. Bisher
gibt es aber nur Eckpunkte für einen Nachweis zu rein medizinischen
Zwecken. Ausgespart blieb die Debatte, ob damit zum Beispiel
leichteres Reisen möglich werden soll.

Die Urlaubsländer machen Druck. Deutschland, Frankreich und andere
stehen hingegen auf der Bremse - weil noch nicht klar ist, ob
Geimpfte das Virus weitergeben, und weil sie eine Impflicht durch die
Hintertür fürchten. Der Gipfel brachte nun zumindest den Plan zuwege,
dass binnen drei Monaten eine gemeinsame technische Plattform für die
Impfausweise der EU-Staaten stehen soll, wie Merkel berichtete.

Doch könnte die Wirklichkeit die EU auch hier überholen. Griechenland
und Zypern haben kurzerhand eigene Vereinbarungen mit Israel über die
künftige Einreise von Geimpften geschlossen. Auch Länder wie Polen,
Rumänien oder Estland setzen bereits eigene Regeln. Österreichs
Kanzler Sebastian Kurz schloss einen Alleingang ebenfalls nicht aus.

Auch Empfehlungen der EU-Kommission gehen oft ins Leere. So mahnte
die Behörde die Mitgliedsstaaten schon am 28. Oktober zum Einsatz von
Antigen-Schnelltests. Erst am 18. Februar - rund dreieinhalb Monate
und einen Lockdown später - einigten sich die 27 schließlich, welche
dieser Schnelltests sie gegenseitig anerkennen wollen.

Am 15. Oktober drängelte die Kommission, die Impfkampagne logistisch
vorzubereiten. Doch zum feierlichen Start am 27. Dezember waren dann
doch nicht alle soweit. Belgien setzte nur symbolisch einige
Spritzen, die Niederlande dackelten erst am 6. Januar hinterher.

All das stand bald im Schatten des Streits über den Impfstoffmangel.
Zuständig war die Kommission, die für alle Staaten bestellt hatte -
allerdings im Einvernehmen mit den 27, die auch beim Impfstoffkauf
nur schwer auf einen Nenner kamen. Manche hatten Vorbehalte gegen die
mRNA-Technologie, anderen waren die neuartigen Impfstoffe zu teuer,
die dritten wollten wegen einfacher Handhabe vor allem Astrazeneca.
Es lief zäh, im Nachhinein zu langsam und zaghaft.

Die Kommission hätte die Mitgliedstaaten mehr pushen müssen, sagt
Bruegel-Experte Wolff. Das System sei insgesamt zu träge und zu
vorsichtig gewesen - mit dem Effekt, dass die EU beim Impfen weit
hinterherhinke, mit schweren Folgen für die Wirtschaft. «Als
Volkswirt muss ich sagen, das ist natürlich Kappes», meint Wolff.
Beim Gipfel waren sich alle einig, dass nun Tempo gefordert ist.

Alle wissen zudem, dass die EU die nächste Krise besser meistern
sollte, wenn die Bürger bei der Stange bleiben sollen. Im Auftrag der
Staats- und Regierungschefs soll die Kommission bis Juni «Lektionen
aus der Covid-19-Pandemie» erarbeiten. Ein Vorschlag liegt schon auf
dem Tisch: eine neue EU-Behörde namens Hera und als Vorläufer ein
Programm für neue Impfstoffe gegen Virusvarianten.

Das hält auch Bruegel-Experte Wolff für sinnvoll. Er verweist auf den
Impferfolg in den USA, wo ein ehemaliger Viersternegeneral in der
zuständigen Behörde Barda Dampf machte. «Das ist eine der Lektionen
für Europa: Wenn man Dinge gemeinsam macht, muss man auch exekutive
Macht zentralisieren. Man kann nicht alles im Konsensverfahren
versuchen», sagt Wolff. Um im Bild zu bleiben: «Man kann das Rennauto
nicht halb fertig lassen, man muss es fertig bauen.»