Autonom oder nur autonomer? EU ringt um Kurs in Verteidigungspolitik Von Ansgar Haase, dpa

26.02.2021 15:42

Bedeutet der Machtwechsel in den USA, dass die EU ihre Ambitionen in
der Verteidigungspolitik wieder zurückschrauben kann? Zumindest die
einzig verbliebene Atommacht in der EU hat da sehr klare
Vorstellungen.

Brüssel (dpa) - Die EU-Staaten ringen um den künftigen Kurs für die
gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Bei einem
Videogipfel mit Bundeskanzlerin Angela Merkel und den anderen Staats-
und Regierungschefs stand am Freitag erneut die Frage im Raum, wie
sehr sich die Europäische Union von den USA emanzipieren sollte. In
der Gipfelerklärung hieß es am Ende lediglich, man wolle sich weiter
dafür einsetzen, die Fähigkeit der EU zum autonomen Handeln zu
stärken. Bis März kommenden Jahres solle dazu auch ein «strategischer

Kompass» verabschiedet werden.

Wie stark die EU in der Verteidigungspolitik werden sollte, ist seit
Monaten umstritten. Die Atommacht Frankreich setzt sich für das Ziel
ein, langfristig vollkommen unabhängig handeln zu können. Hintergrund
sind auch die schlechten Erfahrungen, die zuletzt während der
Amtszeit von US-Präsident Donald Trump gemacht wurden.

Länder wie Deutschland haben hingegen die Sorge, dass die EU mit
einer solchen Vorgabe Probleme in den Beziehungen zu den USA
provozieren könnte. Zudem wird argumentiert, dass die EU auf
absehbare Zeit ohnehin keine vollständige Autonomie erreichen könne.

Grund dafür sind unter anderem die bislang vergleichsweise geringen
Ausgaben der Europäer für Rüstung und Verteidigung. Nach
Vergleichszahlen der Nato gaben die USA im vergangenen Jahr rund 785
Milliarden US-Dollar (647 Mrd. Euro) dafür aus. Deutschland und die
anderen EU-Staaten kommen hingegen zusammen auf nicht einmal 300
Milliarden Dollar.

Nach Angaben von Regierungssprecher Steffen Seibert sprach sich
Bundeskanzlerin Merkel (CDU) bei den Beratungen dafür aus, sowohl die
transatlantische Allianz als auch die europäischen
Verteidigungsfähigkeiten zu stärken. Diese ergänzten sich und eine
enge Zusammenarbeit von EU und Nato könne auch eine Zusammenarbeit
von EU und Vereinigten Staaten innerhalb der EU-Kooperationsplattform
Pesco umfassen.

Auch EU-Ratspräsident Charles Michel zeigte sich bemüht, mögliche
Sorgen von Partnern außerhalb der EU von vorneherein zu zerstreuen.
«Ich bin überzeugt, dass starke Partnerschaften starke Partner
erfordern», erklärte der Belgier. Von einer starken EU profitiere
auch das transatlantische Verteidigungsbündnis Nato.

Wie der Richtungsstreit innerhalb der EU ausgeht, wird sich
spätestens in dem «strategischen Kompass» zeigen. Über ihn soll bis

zum Frühjahr kommenden Jahres festgelegt werden, was die EU in Krisen
genau können soll - aber auch, was nicht. Grundlage für die Arbeiten
an dem Kompass ist eine Ende 2020 fertiggestellte Bedrohungsanalyse.
In dem Geheimdokument wird unter anderem auf Grundlage von
nachrichtendienstlichen Erkenntnissen beschrieben, welche Gefahren
von Ländern wie Russland und China ausgehen könnten.

Am Rande ihrer Gespräche zum Kurs der EU tauschten sich die Staats-
und Regierungschefs am Freitag auch mit Nato-Generalsekretär Jens
Stoltenberg aus. Dieser warb wie Merkel für eine noch stärkere
Zusammenarbeit. Ob ein substanzieller Ausbau der Kooperation in
absehbarer Zeit gelingen kann, ist allerdings sehr fraglich. Ein
Grund ist, dass die Türkei als Nato-Mitglied Vereinbarungen
verhindert, die einen umfassenden und unkomplizierten Austausch von
vertraulichen Informationen mit der EU ermöglichen würde. So bleibt
zumindest die militärische Zusammenarbeit sehr kompliziert oder
oberflächlich.

Die Türkei begründet ihre Blockade damit, dass sie die 2004 der EU
beigetretene Republik Zypern völkerrechtlich nicht anerkennt. Die
Insel Zypern ist nach einem griechischen Putsch und einer türkischen
Militärintervention seit 1974 geteilt. Im Norden gibt es die nur von
der Türkei anerkannte Türkische Republik Nordzypern. Die Regierung
der Republik Zypern lenkt den Südteil.

Stoltenberg betonte hingegen die Chancen durch den Regierungswechsel
in den USA und wies darauf hin, dass der neue US-Präsident Joe Biden
von seinem Vorgänger Trump vernachlässigte Allianzen wieder stärken
will. Den aktuellen sicherheitspolitischen Herausforderungen könne
sich kein Land und kein Kontinent allein stellen. «Nicht Europa
allein, nicht Nordamerika allein, sondern nur Europa und Nordamerika
zusammen», sagte er.