Politiker warnen vor überzogenen Erwartungen an EU-Impfpass

27.02.2021 04:00

Mehr Freiheiten mit einem Impfpass? Wirtschaftsverbände machen Druck.
Politiker dämpfen Erwartungen. Auch vor dem nächsten
Bund-Länder-Treffen regiert in der Politik die Vorsicht.

Berlin (dpa) - Politiker warnen parteiübergreifend vor zu hohen
Erwartungen an einen EU-Impfpass. Mehrere Branchen, die besonders
unter der Corona-Pandemie leiden, setzen hingegen große Hoffnungen in
einen solchen Nachweis. Die Staats- und Regierungschefs der
Europäischen Union verständigten sich am Donnerstag darauf, dass
innerhalb der nächsten drei Monate ein europäischer Impfpass
entwickelt werden soll. Unklar ist aber noch, welche Erleichterungen
damit verbunden sein werden.

CDU-Chef Armin Laschet wertete die Pläne für einen solchen Impfpass
vor allem als Signal für gemeinsames Handeln in Europa. Er mahnte
aber in der «Rhein-Zeitung» (Samstag): «Auf Dauer dürfen wir die
Menschen aber nicht einteilen in Geimpfte und Nicht-Geimpfte. Wir
müssen insgesamt Grundrechtseingriffe zurücknehmen und Leben wieder
möglich machen, für alle - und nicht nur für die, die geimpft sind.
»

Die SPD-Gesundheitsexpertin Sabine Dittmar sagte der «Welt»
(Samstag): «Ein europäisches Impfzertifikat ist kein Freifahrtschein
mit Privilegien für Einzelne.» Der Linke-Gesundheitsexperte Achim
Kessler warnte in der Zeitung, das «Spaltungspotenzial eines
Impfausweises» sei enorm. Die Grünen-Gesundheitspolitikerin Kordula
Schulz-Asche mahnte in der «Welt»: «Die Frage eines europäischen
Impfpasses für die Covid-19-Impfung und eine damit einhergehende
Andersbehandlung Geimpfter stellt sich so lange nicht abschließend,
bis die Daten verlässlich zeigen, inwieweit die Immunität anhält und

ob eine Transmission des Virus durch die Impfung verhindert werden
kann.»

TUI-Vorstandschef Friedrich Joussen, sagte hingegen der Zeitung, mit
einem EU-einheitlichen Nachweis könne die Politik jetzt eine wichtige
Basis für das Reisen im Sommer schaffen. Die Hauptgeschäftsführerin
des Deutschen Hotel- und Gaststättenverbandes, Ingrid Hartges,
betonte im «Focus», sobald ausreichend Impfstoff vorhanden sei, müsse

man «Geimpften ihre Freiheiten zurückgeben.» «Es hat nichts mit
Privilegien zu tun, wenn für Geimpfte, die andere nicht mehr
anstecken können, die Grundrechte wieder gelten und sie auch wieder
reisen können», sagte der Geschäftsführer des Deutschen
Tourismusverbandes, Norbert Kunz, dem Nachrichtenmagazin. Matthias
von Randow, Hauptgeschäftsführer des Bundesverbandes der Deutschen
Luftverkehrswirtschaft, forderte im «Focus»: «Wer nachweislich
geimpft ist, sollte in jedem Fall von den Quarantänebestimmungen
ausgenommen werden.»

Zahlreiche Politiker mahnten unterdessen vor dem nächsten
Bund-Länder-Treffen am Mittwoch zur Vorsicht bei möglichen
Lockerungen der Corona-Beschränkungen. Es gehe darum, in «kleinen,
vorsichtigen Schritten» etwas zu ermöglichen, sagte Kanzleramtschef
Helge Braun (CDU) am Freitagabend beim digitalen Jahresempfang der
Mittelstands- und Wirtschaftsunion Wiesbaden. Das Schlimmste wäre:
«Wir machen auf, stellen fest, es klappt nicht und dann sind die
Zahlen wieder hoch und machen wieder relativ streng zu.»

Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) sagte der Mediengruppe
«Straubinger Tagblatt»/«Landshuter Zeitung» und der «Münchner
Abendzeitung» (Samstag) ebenfalls: «Das Schlimmste wäre, wenn wir in

drei Wochen wieder alles zurückdrehen müssten.» Baden-Württembergs

Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) mahnte im «Reutlinger

General-Anzeiger» (Samstag): «Es wäre niemand damit geholfen, wenn
wir überhastet öffnen und wir müssten in wenigen Wochen wieder
zumachen.»

Kretschmann verteidigte zugleich seinen Vorstoß für eine stärkere
Lockerung des Corona-Lockdowns mit Hilfe von Schnelltests. Der
Vorsitzende der Deutschen Stiftung Patientenschutz, Eugen Brysch,
bezeichnete es dagegen als «reines Wunschdenken», weitere
Öffnungsschritte mit Schnelltests abzusichern. «Selbst für
hunderttausende geimpfte Pflegeheimbewohner gibt es keine
Freiheitsrechte, weil die täglichen Schnelltests für Besucher und
Altenpflegekräfte fehlen», sagte Brysch den Zeitungen der Funke
Mediengruppe (Samstag). «Wie soll es dann in Einkaufszentren,
Schulen, Universitäten, Kneipen oder Kinos funktionieren?» fragte er.

Die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin Malu Dreyer (SPD)
erwartet, dass Bund und Länder einen «Perspektivplan» beschließen.

Nach Schulen und Kitas sowie Friseuren gehe es nun zuerst um
Perspektiven für den Einzelhandel und für die Kultur, sagte Dreyer
der «Saarbrücker Zeitung» (Samstag). Auch Berlins Regierender
Bürgermeister Michael Müller (SPD) sagte dem «Tagesspiegel»
(Samstag), nach der schrittweisen Öffnung von Schulen und Friseuren
wären «verbunden mit der 35er-Inzidenz und sinkenden Werten oder
verstärktem Testeinsatz, Einzelhandel und Kultur dran». Man müsse
aber vorsichtig sein bei möglichen Öffnungsschritten. Müller betonte

zugleich: «Wir können nicht dauerhaft im Lockdown leben.»

In den vergangenen Tagen war die Zahl der Neuinfektionen in
Deutschland nicht mehr gesunken oder sogar gestiegen. Die Zahl der
binnen sieben Tagen gemeldeten Neuinfektionen pro 100 000 Einwohner
(Sieben-Tage-Inzidenz) lag laut RKI am Freitagmorgen bundesweit bei
62,6, also weit weg vom 35er-Ziel der Politik für weitere
Lockerungen.

Der Gründer des Mainzer Unternehmens Biontech, Ugur Sahin, geht davon
aus, dass die Infektionsrate in Deutschland erst «ab Ende Mai oder
Anfang Juni einen deutlichen impfstoffbedingten Rückgang verzeichnen»
könnte. «Bis zum Spätsommer sollten wir die Pandemie deutlich besser

unter Kontrolle haben, wenn sich genügend Menschen impfen lassen»,
sagte der 55-Jährige dem «Spiegel». Das bedeute nicht, dass es keine

neuen Ansteckungen mehr gebe. «Aber, dass wir ein normales Leben
haben können.» Sahin erwartet auch, dass die Menschen in einiger Zeit
eine dritte Dosis einer Corona-Schutzimpfung brauchen könnten.

Bundesaußenminister Heiko Maas regte unterdessen einen europäischen
Trauerakt für die Corona-Toten an. Über eine halbe Million Menschen
hätten in Verbindung mit einer Corona-Infektion ihr Leben verloren,
sagte der SPD-Politiker den Zeitungen der Funke Mediengruppe
(Samstag). «Ich würde mir sehr wünschen, dass wir der Verstorbenen
auch in einem europäischen Akt gemeinsam gedenken», sagte Maas.