Charta der Grundrechte

Auch: Allgemeine Entwicklung der Achtung der Grundrechte in der Union

Die 27 Mitgliedstaaten der Europäischen Union sind auf den Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit und der Demokratie, vor allem aber auf den Grund- und Freiheitsrechten ihrer Bürger gegründet. Der EG-Vertrag sah allerdings im Bereich der Grundrechte keine ausdrücklichen Regelungen vor. Ungeachtet des Fehlens eines ausdrücklichen Grundrechtskatalogs hat der Europäische Gerichtshof eine Reihe von Grundrechten aus den Verfassungen der Mitgliedstaaten abgeleitet und als Teil der Gemeinschaftsrechtsordnung betrachtet.

1978 schlossen sich die Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten in ihrer Deklaration zur Demokratie einer gemeinsamen Erklärung des Europäischen Parlaments, des Rates der Europäischen Union und der Europäischen Kommission zum Schutz der Grundrechte an. Auf dem Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs in Köln im Juni 1999 wurde ein Beschluss zur Erarbeitung einer „Charta der Grundrechte der Europäischen Union“ gefasst.

Die Grundrechtscharta der Europäischen Union
Die Präsidenten des Europäischen Parlaments, des Rats und der Kommission haben zum Auftakt des Europäischen Rats von Nizza am 7. Dezember 2000 die Charta der Grundrechte der Europäischen Union proklamiert. Damit sind die auf Unionsebene geltenden Grundrechte erstmals umfassend schriftlich und in einer verständlichen Form niedergelegt. Damit ist sie allerdings noch nicht europäisches und einklagbares Recht geworden.

Ziel und Inhalt der Charta

Die Charta enthält die auf Ebene der Union geltenden Grundrechte, die bisher nur als allgemeiner Verweis auf die Europäische Menschenrechtskonvention und auf die gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union im Vertrag genannt werden (Art 6 Abs. II Vertrag über die Europäische Union). Damit werden die Grundrechte für den Einzelnen transparenter. Zugleich werden Identität und Legitimität der Europäischen Union gestärkt.

Kapitel 1 ("Würde des Menschen") enthält die Rechte auf Menschenwürde, auf Leben, auf körperliche und geistige Unversehrtheit sowie das Verbot von Folter und Sklaverei. Hier werden auch die in der Medizin und Biologie zu wahrenden Grundrechte genannt, zum Beispiel das "Verbot des reproduktiven Klonens von Menschen".

In Kapitel 2 ("Freiheiten") werden bürgerliche, politische und wirtschaftliche Rechte normiert: das Recht auf Freiheit und Sicherheit, die Achtung des Privat- und Familienlebens, der Schutz personenbezogener Daten, das Ehe- und Familiengründungsrecht, die Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit, die Freiheit der Meinungsäußerung und der Information, die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, die Freiheit von Kunst und Wissenschaft, das Recht auf Bildung und das Recht zu arbeiten, die Berufs- und unternehmerische Freiheit, die Eigentumsfreiheit, das Recht auf Asyl sowie der Schutz gegen Abschiebung, Ausweisung und Auslieferung.

Kapitel 3 ("Gleichheit") behandelt das Gleichheitsrecht vor dem Gesetz, die Diskriminierungsverbote, die Vielfalt der Kulturen, Religionen und Sprachen, die Gleichstellung von Männern und Frauen, die Rechte von Kindern und älteren Menschen sowie die Integration von Behinderten.

Im Kapitel 4 ("Solidarität") werden Rechte aus dem Arbeitsleben, das Verbot der Kinderarbeit, der Schutz des Familien- und Berufslebens, das Recht auf Zugang zu Leistungen der sozialen Sicherheit und soziale Unterstützung , der Gesundheits-, Verbraucher- und Umweltschutz sowie das Recht auf Zugang zu Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse aufgeführt.

Kapitel 5 ("Bürgerrechte") enthält die Wahlrechte bei den Wahlen zum Europäischen Parlament und zu den Kommunalwahlen, die Rechte auf gute Verwaltung durch die EU-Organe und -Einrichtungen und den Zugang zu EU-Dokumenten, das Recht auf Anrufung des Bürgerbeauftragten und das Petitionsrecht, die Freizügigkeit und das Aufenthaltsrecht sowie den diplomatischen und konsularischen Schutz.

Kapitel 6 ("Justizielle Rechte") nennt das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf bei Gericht, ein unparteiisches Gericht, die Unschuldsvermutung und Verteidigungsrechte des Angeklagten, die Grundsätze der Gesetz- und Verhältnismäßigkeit für Straftaten und Strafen sowie das Verbot der Doppelbestrafung.

Kapitel 7 ("Allgemeine Bestimmungen") klärt den Anwendungsbereich, die Tragweite der garantierten Rechte, das Schutzniveau und das Verbot des Missbrauchs der Rechte.


Ausblick
Die Wahrung der Grundrechte ist eines der Gründungsprinzipien der Europäischen Union und unerlässliche Voraussetzung für ihre Legitimität. Artikel 6 (F) des Vertrages über die Europäische Union (EUV) besagt in Absatz 1: "Die Union beruht auf den Grundsätzen der Freiheit, der Demokratie, der Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten sowie der Rechtsstaatlichkeit; diese Grundsätze sind allen Mitgliedstaaten gemeinsam." In Absatz 2 desselben Artikels heißt es: "Die Union achtet die Grundrechte, wie sie in der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten gewährleistet sind und wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten als allgemeine Grundsätze des Gemeinschaftsrechts ergeben." Der Europäische Gerichtshof hat diese Verpflichtung der Union wiederholt bekräftigt. Auf seiner Tagung von Köln vom 3. und 4. Juni 1999 beschloss der Europäische Rat, eine Charta der Grundrechte der Europäischen Union zu erstellen, "...um die überragende Bedeutung der Grundrechte und ihre Tragweite für die Unionsbürger sichtbar zu verankern".

Die Charta vereint in einem Text alle Personenrechte und setzt damit den Grundsatz der Unteilbarkeit der Grundrechte um. Sie bricht mit der bislang in europäischen und internationalen Texten üblichen Unterscheidung zwischen Bürgerrechten und politischen Rechten einerseits und wirtschaftlichen und sozialen Rechten andererseits und führt alle Rechte ausgehend von den Grundsätzen Menschenwürde, Grundfreiheiten, Gleichheit von Personen, Solidarität, Bürgerrechte und justizielle Rechte an.

Unter Wahrung des Grundsatzes der Universalität sind die in der Charta genannten Rechte jeder Person ungeachtet ihrer Nationalität oder ihres Aufenthaltsortes gegeben. Anders ist es bei den direkt mit der Unionsbürgerschaft verbundenen Rechten, die nur den Unionsbürgern zustehen (wie die Beteiligung an den Wahlen zum Europäischen Parlament oder den Kommunalwahlen) und den auf einer besonderen Eigenschaft beruhenden Rechten (Rechte von Kindern, Rechte von Arbeitnehmern zum Beispiel auf bestimmte soziale Ansprüche).

Mit der Verankerung von Rechten wie dem Schutz personenbezogener Daten oder von Rechten in Bezug auf die Bioethik will der Text Antworten auf die durch die derzeitige und künftige Entwicklung der Informationstechnologien oder der Gentechnik entstehenden Probleme geben. Er entspricht auch den heutigen legitimen Forderungen nach Transparenz und Unparteilichkeit in der Arbeit der Gemeinschaftsverwaltung, indem er das Recht auf Zugang zu den Verwaltungsdokumenten der Gemeinschaftsinstitutionen oder das Recht auf eine gute Verwaltung, das die diesbezügliche Rechtsprechung des Gerichtshofs zusammenfasst, wieder aufnimmt.

Die Charta wurde im Prinzip ausgehend vom "bestehenden Recht" erarbeitet, das heißt, sie fasst die von den Gemeinschaftsverträgen anerkannten Grundrechte, die gemeinsamen Verfassungsgrundsätze der Mitgliedstaaten, die Europäische Menschenrechtskonvention sowie die Sozialcharta der EU und des Europarates zusammen. Es ist eindeutig festgelegt, dass die Charta einzig und allein die Grundrechte von Personen vor Handlungen der EU-Institutionen und der Mitgliedstaaten schützen soll, die in Anwendung der Unionsverträge erfolgen.

Die Werte und Ziele der EU sowie der Rechte der Unionsbürgerinnen und -Bürger sollten durch Integration der Europäischen Charta der Grundrechte als Teil II in die Europäische Verfassung festgeschrieben werden. Da die Europäische Verfassung von Frankreich und den Niederlanden im Mai bzw. Juni 2005 in einem jeweiligen Referendum abglehnt wurde, konnte die Europäische Verfassung nicht in Kraft treten. Die wesentlichen Inhalte der Europäischen Verfassung wurden in den EU-Reformvertrag übernommen; die Charta der Grundrechte wird der EU-Reformvertrag nicht enthalten. Die britische Regierung unter der Leitung des damaligen Ministerpräsidenten Tony Blair verhinderte dies. Jedoch wird die Charta der Grundrechte durch einen Verweis auf dieselbe Rechtsgültigkeit besitzen - mit Ausnahmen für Großbritannien und Polen.

Die Charta der Grundrechte

Erläuterungen zur Charta der Grundrechte