Verfassung

Nach langer Debatte bei Volksabstimmungen gescheitert

Die Reform der Europäischen Union
Seit über einem Jahrzehnt war die Reform-Aufgabe klar gestellt: Europa braucht eine bürgernahe Europäische Union, die auch mit 25 Mitgliedstaaten handlungsfähig ist. Die geltenden Entscheidungsstrukturen der Europäischen Union können dies nicht länger leisten. Sie wurden in den fünfziger Jahren nicht für eine Gemeinschaft von über 25, sondern von sechs Mitgliedstaaten geschaffen. Schon in den neunziger Jahren zeigten sich Ermüdungserscheinungen: Langwierige Debatten, schwerfällige Entscheidungen, ein Mangel an strategischer Führung und eine unzureichende Beteiligung der Bürger an der europäischen Politik.

Die europäischen Staats- und Regierungschefs waren bei den letzten großen Anpassungen des europäischen Vertragswerks in Amsterdam im Jahr 1997 und in Nizza im Jahr 2000 nicht in der Lage, sich diesen Herausforderungen wirklich zu stellen. Ergebnis waren kaum überschaubare Verhandlungspakete, von den Regierungen der Mitgliedstaaten kleinlich zusammengeschnürt. Die Konsequenzen sind bekannt: Massive Kritik an der Rolle des Europäischen Rates und eine verstärkte öffentliche Debatte um die Zukunftstauglichkeit der Europäischen Union.

Die Fragen zur Zukunft Europas
Auf ihrem Europäischen Rat von Laeken im Dezember 2001 haben die Staats- und Regierungschefs einen neuen Kurs gewagt. Sie bestätigten dabei noch einmal das Ziel: Die Europäische Union muss demokratischer, transparenter und effizienter werden. Der Weg zu diesem Ziel sollte aber nicht mehr von Regierungsbeamten hinter verschlossen Türen ausgehandelt, sondern in einer offenen Debatte erarbeitet werden. Hierfür hat der Europäische Rat von Laeken einen "Konvent zur Zukunft Europas" einberufen, der die Diskussion offen und für jedermann zugänglich führen sollte.

Dabei hat der Europäische Rat Fragen vorgegeben. Wie müssen die europäischen Institutionen aussehen, damit man auch mit über 25 Mitgliedstaaten zu klaren und gerechten Entscheidungen kommen kann? Wie kann erreicht werden, dass die Bürger europäische Entscheidungen nachvollziehen können und sich wirklich beteiligt fühlen? Wann soll die Europäische Union überhaupt zuständig sein? Und: Wie können die Bürger vor einem Ausufern der Tätigkeiten der Union geschützt werden? Sind europäische Entscheidungen noch ausreichend demokratisch legitimiert? Welche Rolle können die nationalen Parlamente in diesem Zusammenhang spielen?

Der Konvent musste die schwierige Balance im Spannungsfeld zwischen freischwebendem Diskussionsforum und des Gremiums zur Gestaltung des institutionellen Rahmens der künftigen Union schaffen. Am Ende stand der Entwurf eines "europäischen Verfassungsvertrags", der als Verhandlungsbasis für die Regierungskonferenz zur Europäische Verfassung 2003/2004 diente.

Verfassungsvertrag sollte die bestehenden Verträge ersetzen
Die Regierungskonferenz von Oktober 2003 bis Juli 2004 einigte sich nach mehreren Anläufen auf den Vertrag über eine Verfassung für Europa. Dieser Verfassungsvertrag sollte die Gesamtheit der in den letzten 50 Jahren geschlossenen Verträge ersetzen, mit Ausnahme des Euratom-Vertrags. Zum ersten Mal in der Geschichte sollte das vereinte Europa eine gemeinsame Verfassung erhalten.

Ab 2007 sollte der Verfassungsvertrag in Kraft treten. Dafür war es notwendig, dass er von jedem Unterzeichnerstaat nach dem in seiner Verfassung vorgeschriebenen Verfahren angenommen (ratifiziert) wurde. Je nach juristischer und geschichtlicher Tradition der einzelnen Länder unterscheiden sich die hierfür von den Verfassungen vorgesehenen Verfahren:

- Parlamentarisches Verfahren: Der Text wird mit einem Ratifizierungsgesetz vom nationalen Parlament angenommen.
- Volksabstimmung: Die Bürgerinnen und Bürger werden in einer Volksabstimmung direkt aufgefordert, sich für oder gegen den Vertragstext auszusprechen.

Verfassung scheitert bei Volksabstimmungen
Nachdem der Ratifizierungsprozess in mehreren Ländern erfolgreich verlaufen war, kam er im Frühjahr 2005 ins Stocken. Franzosen und Niederländer lehnten die Verfassung in Volksabstimmungen im Mai und Juni 2005 ab. Die weitere Zukunft des Verfassungsprojekts war damit unklar. Denn nur wenn alle Staaten den Vertrag ratifizierten, konnte er in Kraft treten.

Auf dem EU-Gipfel im Juni 2005 in Brüssel betonten die Staats- und Regierungschefs, dass der Vertrag am Leben erhalten werden müsse. Dänemarks Ministerpräsident Anders Fogh Rasmussen forderte eine «Zeit des kollektiven Nachdenkens». Tony Blair unterstützte die Forderung, legte aber gleichzeitig das von ihm angekündigte britische Referendum bis auf weiteres auf Eis.

Die Europäische Union setzte auf den Faktor Zeit: Nach dem Nein der Niederländer und Franzosen zum neuen EU-Vertrag verständigten sich die Staats- und Regierungschef auf eine «Auszeit» bis Juni 2006. Die Zeit sollte für "Dialog und Debatte" mit den Bürgern Europas genutzt werden. Unter deutscher Ratspräsidentschaft im Jahr 2007 kam der Reformprozess der EU wieder in Gang. Dieser führte zum Vertrag von Lissabon, der seit dem 01.Dezember 2009 in Kraft ist.

 

Inhalte der geplanten Verfassung

Eine gemeinsame Verfassung sollte überall die gleichen Grundrechte garantieren und Europa demokratischer, transparenter und effizienter machen. Die folgenden Inhalte waren vorgesehen:

Ein Präsident leitet dauerhaft den Europäischen Rat der Staats- und Regierungschefs. Dessen Amtszeit dauert nicht mehr nur sechs Monate, sondern zweieinhalb Jahre und kann ein Mal verlängert werden.

Der Außenminister übernimmt sowohl die Aufgaben des außenpolitischen
Beauftragten des EU-Rats als auch jene des EU-Kommissars für
Außenbeziehungen («Doppelhut»). Er wird Mitglied und Vizepräsident
der Kommission und leitet einen eigenen diplomatischen Dienst der EU.

Das Europaparlament erhält mehr Kompetenzen. Im Regelfall entscheidet es bei der europäischen Gesetzgebung mit. Auch bei der Auswahl des Kommissionspräsidenten müssen künftig die Mehrheitsverhältnisse im Parlament berücksichtigt werden.

Bis zum Jahr 2014 wird jedes Land einen Kommissar nach Brüssel entsenden. Um die Effizienz zu erhöhen, wird dann die Zahl der Kommissare auf zwei Drittel der Mitgliedsländer reduziert mit einer echten Rotation. D.h. jedes Land ist nach zwei Amtsperioden für fünf Jahre nicht in Brüssel vertreten.

Es gilt künftig die „doppelte Mehrheit“: Ein Beschluss auf der Grundlage eines Vorschlags der EU-Kommission wird gefasst, wenn 55 Prozent oder mehr der Mitgliedstaaten, mindestens aber 15 Länder zustimmen. Diese müssen außerdem mindestens 65 Prozent der Bevölkerung repräsentieren. Entscheidet der Rat über eine eher unverbindliche Vorlage der EU-Kommission, so müssen 72 Prozent der Länder mit 65 Prozent der Bevölkerung zustimmen. In jedem Fall gilt eine Entscheidung dann als angenommen, wenn nur drei oder noch weniger Länder sie ablehnen - unabhängig von der Größe dieser Länder. Zum Abstimmungsverfahren wurden folgende Zusatzklauseln vereinbart:

- Auf einigen Gebieten, auf denen der Ministerrat einstimmig entscheiden muss, kann der Europäische Rat - ebenfalls mit Einstimmigkeit - entscheiden, dass im Ministerrat doch eine Mehrheitsentscheidung möglich ist. (Passarelle)
- Wenn ein Land erhebliches nationales Interesse gegen den Beschluss einer Mehrheit des Ministerrats ins Feld führt, kann es die endgültige Entscheidung in den Europäischen Rat schieben. Dort wird zumeist einvernehmlich entschieden. (Emergency brake)
- Wenn eine bestimmte, kompliziert berechnete Mindestzahl von Ländern einen Mehrheitsbeschluss nicht akzeptieren kann, soll versucht werden, eine größere als die vorgeschriebene Zustimmung zu erreichen. Dafür sind keine Fristen gesetzt. (Ioannina-Mechanismus, benannt nach einem EU-Treffen in dem griechischen Badeort, bei dem dieses Verfahren erfunden wurde.)

Es soll mehr Politikbereiche geben, in denen mit Mehrheit entschieden werden kann. Ein Veto-Recht gilt aber weiter für die Steuerpolitik, weitgehend auch für die Außen- und Sicherheitspolitik. Ebenso erschwert sind Mehrheitsentscheidungen im Bereich der Innen- und Justizpolitik. Dafür gibt es die Möglichkeit der «strukturierten Zusammenarbeit»: Länder, die in bestimmten Bereichen enger kooperieren wollen, können das tun.

Bürgerbegehren: Wenn eine Million Bürger aus EU-Ländern mit Unterschriften ein Gesetz verlangen, muss die Kommission tätig werden.

Der Stabilitätspakt ist künftig auch in europäischen Verfassung verankert.

Jeder Mitgliedstaat kann auch aus der Union wieder austreten.

Die Struktur des Verfassungsvertrags
Der Verfassungsvertrag gliedert sich in vier Hauptteile. Gegenstand von Teil I sind die Grundsätze, Zielsetzungen und die institutionellen Bestimmungen der neuen Europäischen Union. Er umfasst die folgenden neun Titel:

- Definition und Ziele der Union
- Grundrechte und Unionsbürgerschaft
- Die Zuständigkeiten der Union
- Die Organe und Einrichtungen der Union
- Ausübung der Zuständigkeiten der Union
- Das demokratische Leben in der Union
- Die Finanzen der Union
- Die Union und ihre Nachbarn
- Zugehörigkeit zur Union.
Teil II des Verfassungsvertrags übernimmt die europäische Charta der Grundrechte. Er umfasst sieben Titel, denen eine Präambel vorangestellt ist:

- Würde des Menschen
- Freiheiten
- Gleichheit
- Solidarität
- Bürgerrechte
- Justizielle Rechte
- Allgemeine Bestimmungen.
Teil III beinhaltet die Bestimmungen zu den Politikbereichen und zur Arbeitsweise der Union: Bestimmungen zur Innenpolitik und Außenpolitik der EU, z. B. zum Binnenmarkt, zur Wirtschafts- und Währungsunion, zum Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts sowie zur Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) und zur Arbeitsweise der Institutionen. Auch der dritte Teil umfasst sieben Titel:

- Allgemein anwendbare Bestimmungen
- Nichtdiskriminierung und Unionsbürgerschaft
- Interne Politikbereiche und Maßnahmen
- Assoziierung der überseeischen Länder und Hoheitsgebiete
- Auswärtiges Handeln der Union
- Arbeitsweise der Union
- Gemeinsame Bestimmungen.
Teil IV enthält die allgemeinen Bestimmungen und Schlussbestimmungen des Verfassungsvertrags, insbesondere das Inkrafttreten, die Verfahren zur Änderung der Verfassung und die Aufhebung der früheren Verträge.

Dem Verfassungsvertrag angefügt ist eine Reihe von Protokollen:

- Das Protokoll über die Rolle der nationalen Parlamente in der Europäischen Union;
- Das Protokoll über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit;
- Das Protokoll betreffend die Euro-Gruppe;
- Das Protokoll zur Änderung des Euratom-Vertrags;
- Das Protokoll über die Übergangsbestimmungen für die Organe und Einrichtungen der Union.
- Darüber hinaus wurde der Schlussakte zur RK eine Fülle von Erklärungen angefügt.


Die Grundprinzipien
- Die Werte und Ziele der EU sowie der Rechte der Unionsbürger werden durch Integration der europäischen Charta der Grundrechte in die Verfassung festgeschrieben.
- Die EU erhält Rechtspersönlichkeit (Europäische Gemeinschaft und Europäische Union werden verschmolzen).
- Die Zuständigkeiten werden klar und deutlich festgelegt (ausschließliche Zuständigkeiten, geteilte Zuständigkeiten und unterstützende Zuständigkeiten) und zwischen den Mitgliedstaaten und der Union aufgeteilt.
- Es wird eine Bestimmung zum freiwilligen Austritt aufgenommen, die es erstmals einem Mitgliedstaat ermöglicht, aus der Europäischen Union auszuscheiden.
- Die Handlungsinstrumente der EU werden vereinfacht . Die Zahl der Rechtsaktarten wird von 15 auf 6 reduziert und die Terminologie wird vereinfacht: Neu eingeführt werden die Begriffe Europäisches Gesetz und Europäisches Rahmengesetz.
- Zum ersten Mal werden die demokratischen Grundlagen der Union definiert, darunter die partizipative Demokratie, und es wird eine echte Möglichkeit für die Bürger geschaffen, Gesetzesinitiativen zu ergreifen.

Die Organe und Einrichtungen
- Die neue Sitzverteilung im Europäischen Parlament entspricht einer degressiv proportionalen Vertretung.
- Der Europäische Rat wird formell institutionalisiert. Künftig wird ein auf zweieinhalb Jahre gewählter Präsident den Vorsitz führen. Die alle sechs Monate wechselnde Präsidentschaft im Europäischen Rat wird also abgeschafft.
- Die Kommission wird ab 2014 verkleinert . Die Zahl der Kommissare wird zwei Drittel der Zahl der Mitgliedstaaten betragen.
- Der Präsident der Kommission wird vom Europäischen Parlament gewählt auf der Grundlage eines Vorschlags des Europäischen Rates.
- Es wird ein Außenminister ernannt, der die Funktionen des Kommissars für Außenbeziehungen und des dem Rat angehörenden Hohen Vertreters für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik in Personalunion vereint.

Die Entscheidungsprozesse
- Die qualifizierte Mehrheit wird neu definiert. Als qualifizierte Mehrheit gilt eine Mehrheit von mindestens 55 % der Mitgliedstaaten, sofern deren Bevölkerungsanteil mindestens 65 % der Bevölkerung der Union ausmacht.
- Die Abstimmung mit qualifizierten Mehrheit im Ministerrat wird ausgeweitet : Sie wird für etwa zwanzig bestehende Rechtsgrundlagen und für etwa 20 weitere neue Rechtsgrundlagen praktiziert werden.
- Das Mitentscheidungsverfahren, nach dem Parlament und Rat gemeinsam Europäische Gesetze und Rahmengesetze erlassen, wird zum Regelfall ( ordentliches Gesetzgebungsverfahren ).
- Es werden Übergangsklauseln geschaffen, die eine Ausweitung der Abstimmung mit qualifizierter Mehrheit und den Übergang zum ordentlichen Gesetzgebungsverfahren nach einem vereinfachten Verfahren erlauben.

Die Politik der Union
- Die wirtschaftliche Koordination zwischen den Ländern der Eurozone wird verbessert und die informelle Rolle der Euro-Gruppe wird anerkannt.
- Die Pfeilerstruktur wir abgeschafft: Der zweite (Gemeinsame Außen- und -Sicherheitspolitik) und der dritte (Justiz und innere Angelegenheiten) Pfeiler, bisher Gegenstand der Regierungszusammenarbeit, werden vergemeinschaftet.
- Die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik wird gestärkt durch Einsetzung eines europäischen Ministers für Auswärtige Angelegenheiten und die progressive Ausgestaltung einer gemeinsamen Verteidigungspolitik , unter anderem durch Schaffung einer Europäischen Verteidigungsagentur und die Zulassung einer verstärkten Zusammenarbeit in diesem Bereich.
- Ein echter Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts wird geschaffen durch eine gemeinsame Politik in den Bereichen Asyl, Zuwanderung und Kontrolle an den Außengrenzen und in der justiziellen und polizeilichen Zusammenarbeit durch Ausweitung der Aktivitäten von Europol und Eurojust und durch erste Schritte auf dem Weg zu einer Europäischen Staatsanwaltschaft.


Stichwort: Doppelte Mehrheit
Bei Abstimmungen im EU-Ministerrat wird, wenn die Verfassung in Kraft tritt, der Taschenrechner unverzichtbar. Das neue System soll einerseits die Gleichheit aller Staaten berücksichtigen und gibt deshalb jedem Land eine Stimme. Aber es soll doch zwischen Groß und Klein unterschieden werden, und deshalb kommt die Zahl der Einwohner jedes Landes mit ins Spiel («doppelte Mehrheit»).

Um eine Entscheidung im Ministerrat zu treffen, müssen «mindestens 15» Länder zustimmen. Diese müssen zudem mindestens 65 Prozent der EU-Bevölkerung repräsentieren. Ein konstruiertes Beispiel: Die 15 alten EU-Länder könnten sich leicht gegen die zehn neuen durchsetzen, denn ihre Zahl reicht aus und sie stellen fast 84 Prozent der EU-Bevölkerung. Umgekehrt bräuchten die Neuen nicht nur mindestens fünf Verbündete. Vielmehr müssten darunter auch einige «Große» sein. Sonst kommen die 65 Prozent der Bevölkerung nicht zu Stande.

Viele kleine Länder haben Sorge, von einem Bündnis aus Deutschland, Frankreich und Großbritannien erdrückt zu werden. Deshalb sagt die Verfassung, zur Blockade eines Beschlusses werden mindestens vier Länder gebraucht. Würden 22 Länder gegen die drei großen stehen, so kämen sie zwar nicht auf 65 Prozent. Ihr Beschluss würde dennoch gelten, weil in diesem Fall eben nur drei und nicht vier Länder Nein sagen würden. Der 55-Prozent-Mindestsatz bei den Ländern gilt immer, wenn die Minister über einen Vorschlag der EU-Kommission entscheiden. In allen anderen Fällen müssen sogar 72 Prozent der Staaten zustimmen, derzeit also 18. Das ist in den Bereichen der Fall, in denen die Kommission noch nicht viel zu sagen hat, zum Beispiel bei der Außen- und Sicherheitspolitik.

Bei den Prozentsätzen erlaubte sich der Gipfel übrigens einen Trick: Etliche kleine Länder wollten die Schwelle von 55 auf 60 Prozent anheben, damit es die großen nicht zu einfach haben. Nun heißt die Formulierung: «55 Prozent, mindestens aber 15 Staaten.» Und 15 von derzeit 25 Ländern sind 60 Prozent. Im Jahr 2007 wird die EU aber auf 27 Staaten erweitert, dann sind 15 Länder nur noch 55,5 Prozent. Und vorher tritt die Verfassung gar nicht in Kraft. Das heißt, dass die 60-Prozent-Hürde nun zwar berücksichtigt ist, faktisch aber niemals zum Tragen kommt.

 

Das waren die wichtigsten Stationen auf dem Weg zur Verfassung

11. Dezember 2000: Die Staats- und Regierungschefs beschließen in
Nizza einen Vertrag, der die Handlungsfähigkeit der EU nach ihrer
Erweiterung erhalten soll. Er wird allgemein als unzureichend
empfunden. Es wird vereinbart, die Reformarbeit fortzusetzen und 2004
eine neue Regierungskonferenz einzuberufen.

15. Dezember 2001: Beim Brüsseler Gipfel wird die «Erklärung von
Laeken» (benannt nach dem Ortsteil und Königsschloss) verabschiedet:
Das erweiterte Europa müsse demokratischer, bürgernäher und
arbeitsfähiger werden. Ein Konvent aus Parlamentariern, Vertretern
der Regierungen und der EU-Kommission soll Vorschläge unterbreiten.
Die Möglichkeit einer EU-Verfassung wird nur in Frageform
angesprochen.

28. Februar 2002: Feierliche Eröffnungssitzung des Konvents in
Brüssel. Sein Präsident, der frühere französische Staatschef Valéry
Giscard d'Estaing, spricht bereits vom «Weg zu einer Verfassung der
Europäischen Union». Der Ausdruck «Verfassungskonvent» bürgert sich
ein.

19. Juni 2003: Giscard d'Estaing präsentiert dem EU-Gipfel in
Thessaloniki den weitgehend fertig gestellten Verfassungsentwurf.

10. Juli 2003: Der Konvent beendet seine Arbeit.

4. Oktober 2003: Die Regierungskonferenz beginnt mit einem
Gipfeltreffen. Von jetzt an wird immer deutlicher, dass viele EU-
Regierungen nicht bereit sind, den Konventsentwurf unverändert zu
übernehmen. Über manche Änderungen wird schnell Konsens erzielt, aber
vor allem die Machtverteilung zwischen den EU-Institutionen und
zwischen den Mitgliedstaaten selbst erweist sich als hohe Hürde für
einen Erfolg.

29. November 2003: Nach zweitägigen Beratungen der Außenminister
kann ein Scheitern des Verfassungsprojekts nicht ausgeschlossen
werden.

13. Dezember 2003: Die für das Gipfeltreffen in Brüssel geplante
Verabschiedung der Verfassung scheitert. Grund ist der Streit um die
Gewichtung der Stimmen jedes Landes bei Abstimmungen im Ministerrat.

26. März 2004: Bei einem weiteren Gipfeltreffen in Brüssel
verpflichten sich die EU-Staats- und Regierungschefs, sich bis zum
nächsten Treffen auf die Verfassung zu einigen.

18. Juni: Die Verfassung für die Europäische Union wird beim
Gipfeltreffen gebilligt.

12. Januar 2005: Das Europaparlament stimmt für den Verfassungsvertrag. (500 gegen 137 bei 40 Enthaltungen)


Volksabstimmungen und Ratifizierung

Litauen hat 11. November 2004 als erstes EU-Mitglied die Verfassung der Europäischen Union ratifiziert. Die Abgeordneten in Vilnius akzeptierten das Dokument mit 84 Ja-Stimmen, 4 der Parlamentarierer stimmten dagegen bei 3 Enthaltungen. Staatspräsident Valdas Adamkus begrüßte den Beschluss: «Eine historische Entscheidung ist abgeschlossen.»

Italien hat nach Litauen und Ungarn als drittes EU- Land die europäische Verfassung ratifiziert. Das Abgeordnetenhaus in Rom stimmte mit überwältigender Mehrheit von 436 Stimmen zu. Lediglich die oppositionellen Kommunisten und die Regierungspartei Liga Nord votierten dagegen. Insgesamt sprachen sich 28 Volksvertreter gegen die Verfassung aus.

Die Spanier haben als erste EU-Bürger in einer Volksabstimmung die Europäische Verfassung angenommen. Beim Referendum stimmten nach dem Endergebnis 76,7 Prozent der Teilnehmer für das Vertragswerk. 17,3 Prozent votierten mit Nein, 6,0 Prozent enthielten sich. Die Beteiligung war mit 42,3 Prozent der Stimmberechtigten relativ gering.

Das slowakische Parlament in Bratislava ratifizierte das Gesetzeswerk am 11. Mai mit 116 gegen 27 Stimmen.

Der deutsche Bundestag hat am 12. Mai 2005 der EU-Verfassung trotz spürbaren Widerstands aus der Union mit überwältigender Mehrheit zugestimmt. Von 594 anwesenden Abgeordneten stimmten 569 mit Ja. Das ist eine Zustimmung von mehr als 95 Prozent. Die notwendige Zwei-Drittel-Mehrheit wurde damit deutlich übertroffen.

Der österreichische Bundesrat, die Länderkammer des österreichischen Parlaments, stimmte am 21. Mai 2005 mit überwältigender Mehrheit der Verfassung zu. Nach der Ratifizierung durch den Nationalrat am 11. Mai galt die Zustimmung des Bundesrates nur noch als Formsache.

Bei der Volksabstimmung in den Niederlanden haben die Niederländer Anfang Juni 2005 mit einer klaren Mehrheit von 61,6 Prozent gegen das europäische Grundgesetz gestimmt. Nur 38,4 Prozent waren dafür. Das war noch deutlicher als in Frankreich, wo Ende Mai knapp 55 Prozent der Franzosen gegen die Verfassung und 45 Prozent dafür gestimmt hatten.

Das lettische Parlament ratifizierte die EU-Verfassung Anfang Juni 2005 mit Zweidrittelmehrheit. 71 der 100 Abgeordneten des Parlaments in Riga stimmten für das umstrittene Reformwerk, 5 Parlamentarier waren dagegen, 6 enthielten sich der Stimme.

Die Luxemburger stimmten am 10. Juli 2005 mit 56,52 Prozent der abgegebenen Stimmen für den EU-Verfassungsentwurf. 43,48 Prozent stimmten gegen die Verfassung.

Nach den gescheiterten Referenden in Frankreich und den Niederlande verordnete sich die Europäische Union eine "Denkpause". In dieser sollte in Ruhe überlegt und mit den Bürgerinnen und Bürgern diskutiert werden. Mitte 2006 wurde die Bundesregierung vom Europäischen Rat beauftragt, vor und während der deutschen EU-Ratspräsidentschaft im ersten Halbjahr des Jahres 2007 Möglichkeiten auszuloten, den Reformprozess neu anzustoßen. Über die Berliner Erklärung führte dies zum EU-Reformvertrag.