Großraum Bratislava wird eine EU im Kleinen Von Christoph Thanei, dpa
21.04.2011 01:30
Bratislava und seine Nachbardörfer in Ungarn und vor allem
Österreich wachsen zu einem grenzüberschreitenden multikulturellen
Großraum zusammen - eine Art Europäische Union im Kleinformat mit
Erfolgsgeschichten und Hindernissen.
Bratislava (dpa) - «In zwanzig Jahren werden hier wohl die
Slowaken die Mehrheit bilden», prophezeit Eva Aubrechtova. Die
slowakische Lehrerin unterrichtet in Bratislava Französisch, doch
sie lebt in Österreich. Sie gehört zu einer der etwa hundert
slowakischen Familien, die sich in den letzten Jahren in dem 2000
Einwohner zählenden Grenzdorf Kittsee angesiedelt haben.
Insgesamt ist der slowakische Anteil in dem Dorf seit der
Grenzöffnung von null auf knapp zwanzig Prozent gestiegen. Unter den
Kindern ist er noch viel höher. Denn aus der Slowakei ziehen fast
nur Jungfamilien zu, während die alteingesessene Dorfbevölkerung
schon vorher überaltert war.
Ähnlich ist es im Nachbardorf Wolfsthal. «Wolfsthal schien vor
der Wende als Dorf am Ende der Welt keine Perspektive mehr zu haben.
Jetzt wächst es wieder und wird zugleich jünger», sagt Bürgermeiste
r
Gerhard Schödinger. Und die slowakischen Neuansiedler zu nahezu
hundert Prozent hochqualifizierte Universitätsabsolventen, sagt er.
Ihren Arbeitsplatz haben sie in der boomenden slowakischen
Hauptstadt, die laut neuesten Eurostat-Daten bereits Wien an
Pro-Kopf-Wirtschaftsleistung und Kaufkraft überholt hat. Aber zum
Wohnen und für den Schulbesuch der Kinder haben sie Bratislavas
österreichische Vororte gewählt, in denen die Immobilienpreise viel
niedriger sind. Aus dem gleichen Grund ist auch die ungarische
Nachbargemeinde Rajka ist auf dem besten Weg, ein Vorort Bratislavas
zu werden.
Dass sich das mit 430 000 Einwohnern eigentlich gar nicht so
riesige Bratislava über Staatsgrenzen hinweg in gleich zwei
österreichische Bundesländer und nach Ungarn ausdehnt, hat mit der
ungewöhnlichen Lage der Stadt zu tun: Bratislava ist geografisch
quasi so in die Ecke des eigenen Landes gequetscht, dass es eine
Reihe österreichischer Gemeinden fast halbkreisförmig umarmt. Und
auch das ungarische Rajka ist über die Stadtautobahn schneller
erreichbar als manche abgelegene Randzonen auf slowakischer Seite.
Schon gleich nach der Wende schickten immer mehr Slowaken ihre
Kinder in österreichische Schulen, wo sie rasch Deutsch lernen
sollten. Als der slowakische Wirtschaftsboom die Immobilienpreise in
Bratislava in die Höhe trieb, kamen kurz nach dem EU-Beitritt 2004
die Eltern als Käufer von Häusern und Baugrundstücken nach. Und wer
noch nicht in den Nachbardörfern jenseits der Grenze wohnt, kommt
zumindest zum Einkaufen wegen der besseren Qualität und der
inzwischen auch schon niedrigeren Preise.
Was lag da näher, als dass Bratislava gleich auch die
öffentlichen Verkehrsmittel über die Grenze fahren ließ: Den Anfang
machte eine von Wolfsthals Bürgermeister Schödinger gewünschte
Autobuslinie in sein Dorf, die mittlerweile bis nach Hainburg führt.
Und seit kurzem ist auch das ungarische Rajka durch eine
Stadtbuslinie angebunden, damit die dort wohnenden Slowaken nicht
nur mit dem Auto zur Arbeit nach Bratislava fahren. An sonnigen
Wochenenden lassen Radfahrer, Spaziergänger und Skater vergessen,
dass ihre in Sichtweite zueinander gelegenen Heimatorte einmal durch
einen unüberwindlichen Stacheldraht voneinander getrennt waren.
Mit dem grenzüberschreitenden Schulbesuch in Österreich ist es
inzwischen aber für die Bewohner Bratislavas vorbei. Denn gerade
wegen der vielen Neusiedler aus der Slowakei platzen die Dorfschulen
und Kindergärten dort so aus den Nähten, dass sie und nur mehr
Kinder mit Wohnsitz in der Gemeinde aufnehmen. Von diesen sind die
slowakischen Kinder durchwegs unter den Klassenbesten, sobald sie
ihre anfänglichen Sprachbarrieren überwunden haben - eben weil sie
allesamt aus besser gebildeten Familien kommen.
Trotzdem hat dieses an eine Europäische Union im Kleinformat
erinnernde Zusammenwachsen über den ehemaligen «Eisernen Vorhang«
hinweg nicht nur harmonische Seiten: «Wir sind alle unvorbereitet
davon überrascht worden, wie mit der Grenzöffnung die Kriminalität
gestiegen ist. Früher hatten wir im Dorf alle Türen offen. Jetzt
sperren alle zu, und trotzdem gibt es einen Einbruch nach dem
anderen«, berichtet der früher bei den Österreichischen Bundesbahnen
beschäftigte Pensionist Ludwig Tomasich.
Die Sparkasse von Kittsee ist gleich zweimal innerhalb von zwei
Wochen überfallen worden, Geschäfte und Privathäuser wurden Ziele
von Serieneinbrüchen. Je näher am Fluchtweg in das für die
österreichische Polizei unübersichtliche Plattenbau-Labyrinth
Bratislava-Petrzalka gelegen, desto größer scheint das Risiko.
# dpa-Notizblock
## Internet
- [Gemeinde Kittsee, Burgenland/Österreich](http://www.kittsee.at),
- [Gemeinde Wolfsthal, Niederösterreich](http://www.wolfsthal.at)