EU-Sozialgipfel in Porto: Fünf Dinge, die man wissen muss Von Verena Schmitt-Roschmann, dpa

07.05.2021 18:16

Mitten in der Corona-Krise sucht die Europäische Union den Aufbruch:
Europa soll gerechter werden, Armut bekämpfen, neue Jobs schaffen.
Ein hehres Ziel, ein dickes Brett.

Porto (dpa) - Die Kulisse ist prächtig mit der eng verschachtelten
Altstadt und dem spektakulären Blick auf den Fluss Douro. Doch in
Porto ging es am Freitag beim EU-Sozialgipfel nicht um Hochglanz und
Sonnenseite. Wie kommt Europa aus der Wirtschaftskrise, ohne die
Ärmsten abzuhängen? Wie hält man Menschen fit für eine völlig neu
e
Arbeitswelt nach der grünen und der digitalen Revolution? Wann
verdienen Frauen endlich so viel wie Männer? Die EU-Staaten suchen in
Porto bis Samstag Antworten. Einfach ist es nicht.

SOZIALGIPFEL - WARUM JETZT?

Im November 2017 einigten sich die Staaten im schwedischen Göteborg
auf die sogenannte Säule sozialer Rechte. Sie enthält 20 Punkte.
Chancengleichheit für Männer und Frauen, das Recht auf eine «gerechte

Entlohnung», ein besserer Arbeitsschutz für Pizzaboten und
Callcenter-Beschäftigte, ein Mindesteinkommen, angemessene Einkünfte
im Alter - alles schon damals auf der Agenda. Nur war es eine eher
unverbindliche Absichtserklärung. Nun nutzt die sozialdemokratische
Regierung in Portugal ihre Zeit im Vorsitz der EU-Länder, um die
Umsetzung voranzubringen. Die Furcht vor Jobverlusten und
Unternehmenspleiten in der Krise macht die Anliegen noch dringender.
«Dies kommt genau zur richtigen Zeit», sagte EU-Kommissionschefin
Ursula von der Leyen in Porto.

DIE UNWUCHT IST ENORM

In der EU gibt es traditionell drastische Unterschiede. So lag der
mittlere Bruttoverdienst in Dänemark 2018 nach Angaben von Eurostat
bei 4057 Euro pro Monat - in Bulgarien waren es gerade mal 442 Euro.
In einer EU-weiten Umfrage 2019 sagten 6,9 Prozent aller Befragten,
sie könnten aus Geldnot ihre Wohnung nicht ausreichend heizen. In
Deutschland waren es 2,5 Prozent - in Bulgarien 30,1 Prozent, in
Portugal 18,9 Prozent. In Deutschland waren im Januar 2021 laut
Eurostat 6,2 Prozent der jungen Leute unter 25 Jahren arbeitslos - in
Spanien 39,9 Prozent. Und so fort. Die EU ist wirtschaftlich in
Unwucht, und die Corona-Krise hat dies noch verschlimmert.

BIS 2030 SOLL ES SPÜRBAR BESSER WERDEN

Die EU-Kommission hat im März einen Aktionsplan präsentiert, der
soziale Lage bis 2030 konkret verbessern soll. Zu den Zielen gehören:
Bis zum Ende des Jahrzehnts sollen mindestens 78 Prozent der
Bevölkerung im Alter zwischen 20 und 64 Arbeit haben - fünf
Prozentpunkte mehr als 2019. Jährlich sollen mindestens 60 Prozent
der Erwachsenen an einer Fortbildung teilnehmen und so den neuen
Anforderungen gewachsen bleiben. Die horrende Zahl von 91 Millionen
Menschen, die 2019 von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht waren,
soll um mindestens 15 Millionen sinken. Zudem hat die Kommission
einen Vorschlag für Mindestlöhne in allen EU-Staaten gemacht.
Demnächst will sie einen Plan vorlegen, um Mitarbeiter von
Digitalplattformen besser abzusichern, etwa Lieferando oder Uber.

DIE EU-STAATEN TUN SICH SCHWER

Eine «Erklärung von Porto» wird diesen Aktionsplan begrüßen - so

steht es im Entwurf, den die Staats- und Regierungschefs am Samstag
billigen wollen. Darin bekennt man sich auch zu den zentralen Zielen
für neue Jobs, Qualifizierung und Armutsbekämpfung. Am Freitag
schienen sich in Porto alle einig, wie wichtig ein sozialeres Europa
sei. Trotzdem wird das Ergebnis von Porto wohl kaum verbindlicher als
der Beschluss von Göteborg. Es gibt grundsätzlichen Kompetenzstreit:
Vor zwei Wochen stellten elf EU-Staaten klar, dass sie in der
Sozialpolitik auf die eigene Zuständigkeit pochen - die EU soll
möglichst wenig konkrete Vorgaben machen. Die Interessen laufen weit
auseinander, denn niedrige Löhne in östlichen Ländern gelten einigen

Regierungen auch als Wettbewerbsvorteil im Binnenmarkt. Einige
nördliche Länder fürchten, dass die EU ihre hohen Standards drückt.


ABER ES IST NICHT AUSSICHTSLOS

Ähnlich tief ist die Kluft zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften,
die in Porto ebenfalls mitdiskutierten. Der CDU-Europaabgeordnete
Dennis Radtke frotzelte, man müsse aufpassen, dass da am Ende nicht
nur stehe: «Wir finden alle gut, dass die Sonne scheint. Und wir
wünschen uns, dass die Sonne noch viel häufiger und für viel mehr
Leute scheint.»

Trotzdem sind Fortschritte nicht ausgeschlossen, denn mit denn 750
Milliarden Euro schweren Corona-Hilfen der EU fließt in den nächsten
Jahren eine Menge Geld auch in Bildung und neue Jobs. Je nach
Stimmungslage sehe er das Glas mal halb leer, mal halb voll, sagt
Radtke. «Die Tür für ein sozialeres Europa ist weit auf.» Man müs
se
die Staats- und Regierungschefs jetzt über die Schwelle schieben.