Angriffe auf Tel Aviv - Netanjahu: Gaza-Einsatz «so lange wie nötig»

15.05.2021 23:03

Die internationale Gemeinschaft drängt auf ein rasches Ende des
blutigen Konflikts zwischen Israel und der Hamas. Netanjahu stimmt
sein Volk jedoch auf weitere «schwere Tage» ein. Nach dem bisher
massivsten Raketenangriff auf Tel Aviv zerstört Israel in Gaza ein
Hochhaus mit Medienbüros.

Tel Aviv (dpa) - Israels Militäreinsatz gegen die im Gazastreifen
herrschende Hamas wird nach Worten des Ministerpräsidenten Benjamin
Netanjahu «so lange wie nötig weitergehen». Netanjahu sagte am
Samstagabend, man müsse zunächst die Infrastruktur der islamistischen
Hamas zerstören. «Uns stehen noch schwere Tage bevor, aber wir werden
sie gemeinsam durchstehen und siegen», sagte der 71-Jährige.

Nach dem bisher massivsten Raketenangriff militanter Palästinenser
auf den Großraum Tel Aviv hatte Israels Militär seine Attacken auf
ranghohe Hamas-Mitglieder verstärkt. Die Luftwaffe habe die Häuser
von Raed Saad, Hamas-Chef für Spezialeinsätze, sowie zweier
Hamas-Kommandeure in Chan Junis im Süden und Dir el-Balach im
mittleren Abschnitt des Gazastreifens beschossen, teilte die Armee am
späten Samstagabend mit. Israels Militär drohte außerdem der
Hamas-Führungsriege mit gezielter Tötung.

Militante Palästinenser im Gazastreifen hatten am Samstag drei Mal
kurz hintereinander Raketen auf die Küstenmetropole Tel Aviv
gefeuert. Dabei wurde ein Mann getötet. Israels Luftwaffe zerstörte
kurz darauf ein 14-stöckiges Hochhaus im Gazastreifen, in dem
Medienunternehmen wie Associated Press (AP) ihre Büros hatten.

Die Nachrichtenagentur AP reagierte entsetzt. «Das ist eine
unglaublich beunruhigende Entwicklung», teilte AP-Präsident Gary
Pruitt am Samstag in New York mit. «Wir sind nur knapp einem
schrecklichen Verlust von Menschenleben entgangen.» Ein Dutzend
AP-Journalisten und freie Mitarbeiter seien rechtzeitig in Sicherheit
gebracht worden.

Es ist das fünfte Hochhaus, das Israels Armee seit Beginn der
jüngsten Eskalation am Montag zum Einsturz bringt. Den Angaben
zufolge hatte auch der katarische TV-Sender Al-Dschasira (Al-Jazeera)
ein Büro in dem zuletzt zerstörten Gebäude. Die israelische Armee
teilte bei Twitter mit, Kampfjets hätten ein Hochhaus angegriffen, in
dem der Militärgeheimdienst der islamistischen Hamas über
«militärische Ressourcen» verfügt habe. Die islamistische Hamas wir
d
von Israel, den USA und der EU als Terrororganisation eingestuft. Sie
hat die Zerstörung Israels zu ihrem Ziel erklärt.

Ein Sprecher des militärischen Hamas-Arms drohte Tel Aviv daraufhin
mit einer «Antwort, die die Erde erschüttern lässt». Seine
Organisation kündigte zudem an, von Mitternacht an erneut Raketen auf
Tel Aviv feuern. Ein Kommandeur der iranischen Revolutionsgarden,
General Ismaeil Ghani, sicherte der Hamas in einem Telefonat mit dem
Hamas-Chef Ismail Hanija am Samstag uneingeschränkte Unterstützung im
Kampf gegen Israel zu, wie iranische Staatsmedien berichteten.

Die USA bemühen sich intensiv um Deeskalation im Gaza-Konflikt.
US-Präsident Joe Biden telefonierte am Samstag zum zweiten Mal in
dieser Woche mit Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu und
erstmals auch mit Palästinenserpräsident Mahmud Abbas. «Der Präside
nt
bekräftigte seine nachdrückliche Unterstützung für das Recht Israel
s,
sich gegen die Raketenangriffe der Hamas und anderer terroristischer
Gruppen im Gazastreifen zu verteidigen», teilte das Weiße Haus zu dem
Telefonat mit Netanjahu mit. Biden habe seine Besorgnis über die
Sicherheit von Journalisten zum Ausdruck gebracht und die
Notwendigkeit betont, deren Schutz zu gewährleisten.

Im Gespräch mit Abbas habe Biden habe zudem betont, die Hamas müsse
den Raketenbeschuss auf Israel einstellen, teilte das Weiße Haus mit.
Biden und Abbas hätten ihre Sorge über den Tod unschuldiger
Zivilisten zum Ausdruck gebracht. Der US-Präsident habe sein
Engagement für eine verhandelte Zwei-Staaten-Lösung betont.

Der US-Spitzendiplomat Hady Amr war zuvor nach Angaben der
US-Botschaft in Israel auf dem Flughafen Ben Gurion bei Tel Aviv
gelandet. US-Außenminister Antony Blinken hatte ihn gebeten, sich mit
Vertretern beider Seiten zu treffen.

EU-Chefdiplomat Josep Borrell rief dazu auf, das Völkerrecht zu
respektieren. Es müsse vollen humanitären Zugang zum Gazastreifen
geben, forderte der Hohe Vertreter der EU am Samstagabend
nach Gesprächen mit Vertretern der Konfliktparteien. Er verurteilte
die Raketenangriffe aus dem Gazastreifen. Israel habe das Recht,
seine Bevölkerung vor diesen Angriffen zu schützen, müsse aber
angemessen handeln und zivile Opfer vermeiden.

Israels Militär drohte unterdessen der Führungsriege der im
Gazastreifen herrschenden Palästinenserorganisation Hamas mit
gezielter Tötung. Armeesprecher Hidai Zilberman sagte dem
israelischen Fernsehen am Samstagabend, man werde in der Nacht weiter
wichtige Einrichtungen der Hamas und des Islamischen Dschihads
überall im Gazastreifen angreifen. Dies gelte auch für die höchste
Führungsriege der Hamas.

Die Hamas hat nach Angaben eines israelischen Luftwaffenoffiziers
seit Montag mehr als 2300 Raketen auf Israel abgefeuert. Israel habe
im gleichen Zeitraum mehr als 650 Ziele im Gazastreifen angegriffen.
Der Konflikt zwischen Israel und der im Gazastreifen herrschenden
Hamas war zu Wochenbeginn eskaliert. Nach Angaben des
Gesundheitsministeriums in Gaza wurden seitdem rund 145 Menschen
getötet und 1100 verletzt. Wie der Rettungsdienst Magen David Adom
mitteilte, kamen in Israel durch den Raketenbeschuss der vergangenen
Tage zehn Menschen ums Leben, 636 wurden verletzt.

Die amtliche palästinensische Nachrichtenagentur Wafa teilte am
Samstag mit, in dem Flüchtlingslager Schati im Westen von Gaza sei
ein Haus getroffen worden. Laut palästinensischem
Gesundheitsministerium wurden dabei zehn Mitglieder einer
palästinensischen Familie getötet, darunter acht Kinder. Ein fünf
Monate alter Junge überlebte den Angriff demnach. Die israelische
Armee prüft die Berichte.

Zuletzt hatte Israels Luftwaffe auch ein breites Tunnelsystem der im
Gazastreifen herrschenden Hamas angegriffen. Dabei wurden eigenen
Angaben zufolge 500 Tonnen Munition eingesetzt. An dem Angriff auf
das sogenannte Metro-System in der Nacht zum Freitag seien 160
Flugzeuge beteiligt gewesen, sagte ein ranghoher Offizier der
israelischen Luftwaffe. Es sei noch unklar, ob und wie viele
Hamas-Kämpfer dabei getötet worden seien. «Potenziell sind es aber
Hunderte», sagte er.

Ausländische Medien warfen der israelischen Armee vor, sie mit einem
Tweet kurz vor dem Angriff absichtlich manipuliert zu haben. «Luft-
und Bodentruppen greifen gegenwärtig im Gazastreifen an», hieß es
darin in der Nacht zum Freitag, als mit einer Bodenoffensive Israels
gerechnet wurde. Dies hatte nach Medienberichten zahlreiche
Hamas-Kämpfer dazu bewegt, in das unterirdische System abzutauchen.
Die Armee dementierte und sprach von einem Kommunikationsfehler. Es
befinde sich kein israelischer Soldat im Gazastreifen.

Israel hat dem Offizier zufolge insgesamt 31 Raketenwerkstätten von
Hamas und dem extremistischen Islamischen Dschihad zerstört. Hamas
habe daher gegenwärtig nicht mehr die Fähigkeit, neue Raketen
herzustellen.

Der Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern hatte sich während
des muslimischen Fastenmonats Ramadan und nach der Absage der
palästinensischen Parlamentswahl zugespitzt. Als Auslöser gelten etwa
Polizei-Absperrungen in der Jerusalemer Altstadt, die viele junge
Palästinenser als Demütigung empfanden.

Hinzu kamen Auseinandersetzungen von Palästinensern und israelischen
Siedlern im Jerusalemer Viertel Scheich Dscharrah wegen drohender
Zwangsräumungen sowie heftige Zusammenstöße auf dem Tempelberg
(Al-Haram al-Scharif). Die Anlage mit Felsendom und Al-Aksa-Moschee
ist die drittheiligste Stätte im Islam. Sie ist aber auch Juden
heilig, weil dort früher zwei jüdische Tempel standen. Die
islamistische Hamas hat sich zum Verteidiger Jerusalems erklärt.

Die Palästinenser gedachten am Samstag, dem Tag der Nakba
(Katastrophe), der Vertreibung und Flucht Hunderttausender
Palästinenser im Zuge der israelischen Staatsgründung 1948. Rund 500
Menschen demonstrierten in Ramallah im Westjordanland.

In mehreren Ländern protestierten jeweils Tausende Menschen gegen die
Luftangriffe der israelischen Armee auf Gaza, darunter in der
britischen Hauptstadt London, in Frankreichs Hauptstadt Paris und im
Irak. Auch im Libanon demonstrierten erneut Dutzende an der Grenze zu
Israel. Israelische Sicherheitskräfte feuerten Augenzeugen zufolge
Tränengas auf Menschen, die sich dem Grenzzaun näherten.