Goodbye, EU-Regeln: London feiert Rückkehr zu Unzen und «Crown Stamp» Von Benedikt von Imhoff, dpa

17.09.2021 14:42

Der EU-Austritt macht es möglich: In Großbritannien dürfen bald
wieder ausschließlich die alten Gewichts- und Maßangaben verwendet
werden. Brexit-Anhänger jubeln über einen weiteren Schritt bei der
Rückkehr zur «Souveränität». Kritiker schütteln den Kopf.

London (dpa) - Aus alt wird neu: In einem demonstrativen Schritt
erlaubt Großbritannien nach dem Brexit wieder die ausschließliche
Verwendung alter Gewichtseinheiten wie Pfund und Unzen.
Brexit-Anhänger bejubeln die Rückkehr zu britischen Traditionen. Für

sie waren die EU-Regeln, die einheitliche Kennzeichnung gesetzlich
vorschreiben, eine emotionale Frage. «Take back control» (Die
Kontrolle zurückgewinnen) war das Motto der Brexiteers.

Das «metrische Martyrium» sei beendet, ist nun in konservativen
Kreisen zu hören. Unter EU-Regeln mussten Gewichtsangaben etwa in
Geschäften oder Supermärkten zusätzlich in Kilogramm angegeben
werden.

Ebenfalls gefeiert wird, dass die königliche Krone wieder auf
Pint-Biergläser geprägt werden darf. Das Symbol - die «Crown Stamp»

galt jahrhundertelang als Beleg für die korrekte Eichung der Gefäße,

musste aber 2007 dem EU-einheitlichen CE-Zeichen weichen. Auch die
konservative Zeitung «Daily Telegraph» jubelte am Freitag über die
Entscheidung: «Die «Crown Stamp» überdauerte Jahrhunderte und wurde

ein Eckpfeiler britischen Lebens. Aber obwohl sie zwei Weltkriege und
das Zerbröckeln des Empire überlebte, hatte sie keine Chance gegen
Brüssel.»

Mit der Rückkehr zu Werten, die an imperiale Glanzzeiten eines großen
Kolonialreichs erinnern, setzt Premierminister Boris Johnson beim
Versuch, das Land von seinem Post-Brexit-Kurs eines «Global Britain»
zu überzeugen, einmal mehr auf die emotionale Karte. Groß war der
Aufschrei, als der Händler Steven Thoburn 2001 zu einer Geldbuße
verurteilt wurde, weil er Bananen im Wert von 34 Pence (heute 40
Cent) nicht in Kilogramm angegeben hatte. Der Fall gilt vielen als
Startschuss für den Brexit.

Zu den Kritikern zählte auch Johnson. «Warum zwingen wir Briten, die
Maße Napoleons zu verwenden, wenn das imperiale System in Amerika,
der erfolgreichsten Wirtschaft der Welt, überlebt und gedeiht»,
schrieb er damals als Chefredakteur der konservativen
Wochenzeitschrift «Spectator». Nach seinem Antritt als Regierungschef
2019 kündigte Johnson eine «Ära der Großzügigkeit und Toleranz»
an:
«Wir werden diese alten Freiheiten zurückbringen», sagte er. Sein
Brexit-Beauftragter David Frost kündigte an, den «regulativen
Fleischwolf» der EU abzuschaffen, wegen dem Großbritannien viele
«unbefriedigende Kompromisse» habe schließen müssen.

Doch während Konservative jubeln, können Kritiker nur noch den Kopf
schütteln. «Unsere Regale sind leer, aber wenn sie voll wären,
könnten wir Sachen mithilfe eines Systems kaufen, das niemand kennt,
der seit den 1970ern die Schule verlassen hat», lästerte ein
«Times»-Leser. Wegen der Corona-Krise und scharfer Migrationsregeln
nach dem Brexit werden in zahlreichen Branchen händeringend
Arbeitskräfte gesucht, immer wieder gibt es in Supermärkten Lücken.

Zwar wurden Entfernungen auch zu EU-Zeiten etwa auf Autobahnen in
Meilen angegeben, und das Bier kam im Pint-Glas. Ihre Größen geben
Briten regelmäßig in Fuß und Zoll (Inch) an. Doch sind etwa Unzen
fast völlig aus dem Alltag verschwunden. Dass 16 Unzen ein Pfund
ergeben und 2,2 Pfund wiederum einem Kilogramm entsprechen sowie 14
Pfund einem Stein (stone), dürften die wenigsten jüngeren Leute
wissen. Experten warnen vor Durcheinander und Fehlern in der
Umrechnung, durch die Verbraucherinnen und Verbraucher übers Ohr
gehauen werden könnten.

Im Schatten der emotionalen Debatte deuten sich zudem Änderungen an,
die noch weitreichendere Folgen für die Beziehungen zwischen EU und
dem Vereinigten Königreich haben könnten. Denn ebenfalls abgeschafft
werden sollen EU-Regeln unter anderem zu Finanzdienstleistungen,
Datenschutz und gentechnisch veränderten Organismen. «Wir haben vor,
schließlich alle übernommenen EU-Gesetze zu ändern, zu ersetzen oder

aufzuheben, die nicht richtig sind für Großbritannien», donnerte
Johnsons Brexit-Beauftragter Frost. Beobachter warnen, dies könne die
ohnehin heftige Konfrontation mit Brüssel weiter verschärfen.