Brexit und die Kraftstoffkrise - «Lord Voldemort britischer Politik» Von Christoph Meyer, dpa

28.09.2021 19:55

Wegen des Mangels an Lastwagenfahrern sowie Panikkäufen geht an
britischen Tankstellen der Sprit aus. Sogar die Armee wird in
Bereitschaft versetzt. Bei der Debatte über die Ursachen wird ein
Thema jedoch fast als Tabu behandelt.

London (dpa) - Kilometerlange Staus an Tankstellen und verzweifelte
Menschen, die nicht an ihren Arbeitsplatz oder nach Hause kommen. Die
Kraftstoffkrise in Großbritannien dominierte auch am Dienstag die
Schlagzeilen in dem Land.

Nun könnte sogar die Armee aushelfen. Wie die Regierung in der Nacht
zum Dienstag mitteilte, werden Lastwagenfahrer aus der Truppe darauf
vorbereitet, Tankstellen zu beliefern. Hintergrund für die Krise ist
nämlich nicht ein Mangel an Kraftstoff, sondern dass er nicht am
richtigen Ort ist. In Großbritannien fehlen schätzungsweise rund 100
000 Lastwagenfahrer und das hatte auch schon in anderen Bereichen zu
Engpässen geführt, beispielsweise blieben teilweise Supermarktregale
leer.

Doch fehlende Sandwiches hatten bei weitem nicht die gleichen
Auswirkungen wie die Krise an der Zapfsäule. Nachdem in der
vergangenen Woche einige Tankstellen-Filialen wegen der
Versorgungsprobleme geschlossen wurden, versuchten viele Menschen
schnell noch einmal vollzutanken - und verschlimmerten die Lage
massiv. Nun klagen Ärzte und Pfleger, dass sie nicht zu ihren
Patienten kommen, und Handwerker fürchten um ihre Aufträge. Am
Dienstagnachmittag kamen aus der Regierung und von der Vereinigung
der Tankstellenbetreiber Petrol Retailers Association erste
Hoffnungen auf eine Wende. Anders als am Vortag berichteten nur noch
gut ein Drittel der Tankstellen, auf dem Trockenen zu sitzen. Doch
von Entspannung ist das noch weit entfernt.

Der Regierung zufolge liegt die Wurzel des Übels vor allem an der
Corona-Pandemie und einem Rückstau an ausgefallenen Fahrprüfungen.
Verkehrsminister Grant Shapps deutete am Dienstag zwar an, dass auch
der Brexit eine Rolle spielen könne. Auf der anderen Seite, betonte
er, habe der EU-Austritt dem Land erst möglich gemacht, die Regeln
für Fahrprüfungen zu vereinfachen.

Glaubt man der Regierung in London, ist der Mangel an Lkw-Fahrern ein
globales Problem und in Ländern wie Polen noch deutlich schlimmer als
auf der Insel. In Polen sind indessen keine ähnlichen Schwierigkeiten
zu beobachten wie im Vereinigten Königreich.

Premier Boris Johnson verteidigte dennoch das Ende der Freizügigkeit
für Arbeitnehmer, die in Großbritannien seit dem Brexit Geschichte
ist. «Ich denke nicht, dass die Menschen in diesem Land alle Probleme
wieder mit unkontrollierter Einwanderung lösen wollen», sagte er am
Dienstag in einer Videobotschaft. «Das haben wir 20 Jahre, vielleicht
sogar länger, probiert.» Dies sei aber nicht der Weg, wie
Großbritannien sich entwickeln und wachsen solle.

Ansonsten wird das Thema Brexit in London inzwischen mit spitzen
Fingern angefasst. Weder die Regierung noch die Opposition scheinen
sonderlich interessiert daran, eine Debatte über den Zusammenhang
zwischen dem Austritt aus dem Binnenmarkt und wirtschaftlichen
Verwerfungen im Land führen zu wollen. Brexit-Gegner Andrew Adonis,
der für die Labour-Partei im Oberhaus sitzt, sprach bereits in
Anlehnung an den Bösewicht der Harry-Potter-Romane, dessen Name als
Tabu gilt, vom «Lord Voldemort der britischen Politik».

Labour-Chef Keir Starmer hält sich inzwischen mit Brexit-Kritik
zurück. Er darf in dieser Hinsicht wohl als gebranntes Kind gelten.
Starmer hatte sich während der Brexit-Gespräche vehement für ein
zweites Referendum eingesetzt und wollte den EU-Austritt rückgängig
machen. Doch das spielte letztlich den Brexit-Hardlinern um Boris
Johnson in die Hände, die den Sozialdemokraten in deren
traditionellen Hochburgen im Norden Englands die überwiegend vom
Brexit begeisterte Wählerschaft abspenstig machten.

Starmer, der den altlinken Jeremy Corbyn an der Parteispitze ablöste,
hat inzwischen alle Hände damit zu tun, die eigene Partei
zusammenzuhalten. Keine einfache Aufgabe, wie sich beim Parteitag im
südenglischen Brighton Anfang der Woche zeigte. Ein ehemaliger
Corbyn-Verbündeter warf im Streit um Mindestlöhne seinen Posten als
Mitglied des Schattenkabinetts hin. Labour, so scheint es, ist selbst
während einer der größten Krisen der vergangenen Jahre wieder einmal

mehr mit sich selbst als mit Kritik an der Regierung beschäftigt.

Keine Hemmungen, das Thema Brexit mit dem Fahrermangel in Verbindung
zu bringen hatte hingegen SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz, als er am
Montag von einem britischen Journalisten angesprochen wurde. Man habe
ja versucht, die Briten vom Austritt abzuhalten, sagte er. Die hätten
sich aber anders entschieden. Nun hoffe man, dass sie mit den daraus
entstandenen Problemen zurechtkämen. Auch der Ex-Chefunterhändler der
EU bei den Brexit-Verhandlungen, Michel Barnier, sprach Klartext:
«Unser wichtigstes Kapital ist der Binnenmarkt und elementarer Teil
davon ist die Arbeitnehmerfreizügigkeit», sagte er der BBC am Montag.
Großbritannien müsse nun den Konsequenzen des EU-Austritts ins Auge
sehen.