EU-Kommission will Schuldenregeln ein weiteres Jahr aussetzen

23.05.2022 12:28

Eigentlich sollten die strengen EU-Regeln für Schulden und Defizite
nächstes Jahr wieder in Kraft treten, da sich die Wirtschaft erholt
hat. Wegen des Kriegs in der Ukraine kommt nun doch alles anders.

Brüssel (dpa) - Die strengen Schuldenvorgaben in der Europäischen
Union sollen angesichts der Ukraine-Krise um ein weiteres Jahr länger
ausgesetzt bleiben. Am Montag schlug die EU-Kommission vor, den
sogenannten Stabilitäts- und Wachstumspakt erst 2024 wieder
vollständig in Kraft zu setzen. Grund seien hohe Unsicherheit wegen
des Kriegs in der Ukraine, hohe Energiepreise und Engpässe bei den
Lieferketten, teilte die Brüsseler Behörde mit. «Wir sind weit von
der wirtschaftlichen Normalität entfernt», sagte Wirtschaftskommissar
Paolo Gentiloni.

In ihren jährlichen wirtschaftspolitischen Empfehlungen rät die
EU-Kommission den Ländern, in die Energiewende und die
Digitalisierung zu investieren. Gleichzeitig sollten sie ihre
weiteren Ausgaben kontrollieren, insbesondere Staaten mit hohen
Schulden wie Italien. «Wir schlagen keine Rückkehr zu unbegrenzten
Ausgaben vor», sagte Gentiloni. Ziel sei es, von der universellen
Unterstützung während der Pandemie zu gezielteren Maßnahmen
überzugehen.

Die Schulden- und Defizitregeln waren während der Corona-Krise
ausgesetzt worden und sollten eigentlich ab 2023 wieder gelten. Der
Vorschlag der EU-Kommission wird nun den EU-Ländern vorgelegt. Die
Behörde will zudem nach dem Sommer konkrete Vorschläge für eine
Reform des Stabilitäts- und Wachstumspakts vorlegen, die dann im
Laufe des kommenden Jahres in Kraft treten könnte.

Der Stabilitäts- und Wachstumspakt sieht vor, dass EU-Länder nicht
mehr als 60 Prozent der Wirtschaftsleistung an Schulden aufnehmen.
Haushaltsdefizite sollen bei 3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts
(BIP) gedeckelt werden. Viele Länder überschreiten diese Grenzwerte,
vor allem, weil sie während der Corona-Pandemie hohe Schulden
aufnehmen mussten, um die Wirtschaft zu stützen.

Auch Deutschland überschreitet diese Werte mit einem Schuldenstand
von 69 Prozent des BIPs im vergangenen Jahr und einem Defizit von 3,7
Prozent, wie aus einem länderspezifischen Bericht der Kommission vom
Montag hervorgeht. Moniert wurde wie in vorherigen Jahren auch der
hohe Leistungsbilanzüberschuss Deutschlands - also dass unter anderem
mehr exportiert als importiert wird - und eine niedrige
Investitionsrate. Dies schaffe ein Ungleichgewicht gegenüber anderen
Ländern. Mehr private und öffentliche Mittel sind nach Angaben der
Kommission für die Energiewende und die Digitalisierung notwendig.
Unter anderem bürokratische Hürden hätten Investitionen
zurückgehalten.

Die Kommission warnte zudem, dass die deutsche Wirtschaft besonders
von dem Krieg in der Ukraine betroffen sei - etwa wegen der
Abhängigkeit von russischem Gas und anderen Rohstoffen aus Russland
und der Ukraine. «Die Verschärfung von Lieferketten-Engpässen und
gestiegene Kosten und Preise bremsen das Wirtschaftswachstum», hieß
es in dem Bericht. Deutschland müsse seine Abhängigkeit von fossilen
Brennstoffen verringern.

Insgesamt hatte die EU-Kommission die Entwicklung der staatlichen
Haushalte zuletzt positiv bewertet. Die durchschnittliche
Schuldenquote werde dieses Jahr auf 87 Prozent sinken im Vergleich zu
90 Prozent im vergangenen Jahr, hieß es in der Frühlingsprognose der
Behörde. Die durchschnittlichen Defizite sollen voraussichtlich von
4,7 Prozent auf 3,6 Prozent der Wirtschaftsleistung sinken. Ihre
Wachstumsprognose musste die EU-Kommission allerdings wegen des
Kriegs in der Ukraine drastisch anpassen - von 4 auf 2,7 Prozent für
dieses Jahr.