Lagarde: EZB könnte Negativzinsen bis Ende September beenden

23.05.2022 16:22

Die Rekordinflation beschleunigt die Zinswende im Euroraum: Mit
Negativzinsen könnte im September Schluss sein. Bis Sparer wieder
nennenswerte Zinsen auf ihr Erspartes bekommen, dürfte es allerdings
eine Weile dauern.

Frankfurt/Main (dpa) - Das Ende der Negativzinsen im Euroraum naht.
«Ausgehend von den derzeitigen Aussichten werden wir wahrscheinlich
in der Lage sein, die negativen Zinssätze bis zum Ende des dritten
Quartals zu beenden», kündigte die Präsidentin der Europäischen
Zentralbank (EZB), Christine Lagarde, am Montag in einem von der
Notenbank veröffentlichten Beitrag an.

Die Rekordinflation im Euroraum zwingt Europas Währungshüter zum
schnelleren Gegensteuern. In den vergangenen Wochen stimmte sie die
Märkte auf die erste Zinsanhebung seit elf Jahren ein. Ein Ende der
Netto-Wertpapierkäufe sei «sehr früh im dritten Quartal» zu erwarte
n,
bekräftigte Lagarde nun. «Dies würde uns eine Anhebung der Zinssätz
e
auf unserer Sitzung im Juli ermöglichen, im Einklang mit unseren
Prognosen.»

Der Euro reagierte mit Kursgewinnen. Die Gemeinschaftswährung stieg
am Mittag bis auf 1,0688 US-Dollar. Am Morgen hatte sie noch unter
1,06 Dollar notiert. Höhere Zinsen machen eine Währung für Anleger
attraktiver.

Derzeit müssen Banken 0,5 Prozent Zinsen zahlen, wenn sie Geld bei
der EZB parken. Viele Institute berechnen ihren Kunden wegen dieses
negativen Einlagensatzes ab bestimmten Summen auf dem Konto ein
sogenanntes Verwahrentgelt. Der Leitzins im Euroraum liegt seit März
2016 auf dem Rekordtief von null Prozent. Dieser
Hauptrefinanzierungszins wurde in den vergangenen Jahren in der
Bedeutung vom Einlagensatz verdrängt.

Einige Banken haben bereits ein Ende ihrer Verwahrentgelte in
Aussicht gestellt, sobald dieser Zins auf Bankeinlagen bei der EZB
wegfällt. Bis Sparer wieder nennenswerte Zinsen auf ihr Erspartes
bekommen, dürfte es allerdings eine Weile dauern.

Die Juli-Sitzung des EZB-Rates ist für den 21. Juli angesetzt. Zuvor
kommt das oberste Entscheidungsgremium am 9. Juni zusammen -
ausnahmsweise nicht am Sitz der Notenbank in Frankfurt, sondern in
Amsterdam. Dann liegen dem EZB-Rat auch neueste Prognosen der
Notenbank zur Entwicklung von Konjunktur und Inflation vor.

Im April stiegen die Verbraucherpreise im Währungsgebiet der 19
Staaten zum Vorjahresmonat um 7,4 Prozent. Damit verharrte die
Teuerung auf dem höchsten Niveau seit Einführung der gemeinsamen
Währung. Die EZB strebt mittelfristig stabile Preise bei einer
jährlichen Teuerungsrate von 2 Prozent an.

«Wenn sich die Inflation mittelfristig bei 2 Prozent stabilisiert,
wird eine schrittweise weitere Normalisierung der Zinssätze in
Richtung des neutralen Zinssatzes angemessen sein», führte Lagarde
aus. «Das Tempo der politischen Anpassung und ihr Endpunkt werden
jedoch davon abhängen, wie sich die Schocks entwickeln und wie sich
die mittelfristigen Inflationsaussichten im weiteren Verlauf
gestalten.»

Der neutrale Zins stellt eine Art Gleichgewichtszins dar, bei dem
weder Inflation noch Wirtschaftswachstum ein Übergewicht entwickeln.
Für die USA schätzen Ökonomen den neutralen Zins derzeit auf etwa 2,5

Prozent. Für den Euroraum wird er meist deutlich niedriger angesetzt.

«EZB-Chefin Christine Lagarde beugt sich der Realität hartnäckig
hoher Inflationsraten, wenn sie jetzt noch für das dritte Quartal ein
Ende des negativen Leitzinses ankündigt und danach einen
schrittweisen Anstieg des Leitzinses in Richtung auf das neutrale
Niveau in Aussicht stellt», kommentierte Commerzbank-Chefvolkswirt
Jörg Krämer. Die Commerzbank erwartet, dass die EZB den Einlagensatz
von minus 0,5 Prozent bis April 2023 auf 1,25 Prozent anheben wird.
«Das dürfte allerdings nicht ausreichen, um die Inflation wieder
einzufangen. Denn nach unser Schätzung dürfte der neutrale Leitzins
eher zwischen 2,5 und 3 Prozent liegen», analysierte Krämer.

Für die EZB ist der Ausstieg aus der seit Jahren ultralockeren
Geldpolitik ein Balanceakt: Höhere Zinsen helfen dabei, die Inflation
zu dämpfen, können aber zugleich ausgerechnet in einer Zeit neuer
Rückschläge für die Konjunktur zum Beispiel durch den Krieg in der
Ukraine das Wirtschaftswachstum bremsen.

«Sollte sich die Wirtschaft des Eurogebiets infolge eines positiven
Nachfrageschocks überhitzen, wäre es sinnvoll, die Leitzinsen
schrittweise über den neutralen Zinssatz anzuheben», schrieb Lagarde.
«Dies würde sicherstellen, dass die Nachfrage wieder mit dem Angebot
in Einklang kommt und der Inflationsdruck nachlässt.»