EU-Schuldenregeln sollen ausgesetzt bleiben - Lindner skeptisch

23.05.2022 17:34

Eigentlich sollten die EU-Schuldenregeln im kommenden Jahr wieder in
Kraft treten. Wegen des Kriegs in der Ukraine kommt alles anders.
Finanzminister Lindner warnt hingegen, «die Sucht nach immer mehr
Verschuldung» müsse so schnell wie möglich überwunden werden.

Brüssel (dpa) - Die EU-Schuldenvorgaben sollen angesichts der
Ukraine-Krise ein Jahr länger ausgesetzt bleiben. Am Montag empfahl
die EU-Kommission, den sogenannten Stabilitäts- und Wachstumspakt
erst 2024 wieder vollständig in Kraft zu setzen. Grund seien hohe
Unsicherheit wegen des Kriegs in der Ukraine, hohe Energiepreise und
Engpässe bei den Lieferketten, teilte die Brüsseler Behörde mit. «W
ir
sind weit von der wirtschaftlichen Normalität entfernt», sagte
Wirtschaftskommissar Paolo Gentiloni.

Bundesfinanzminister Christian Lindner schien nicht überzeugt. «Die
Daten hätten andere Schlussfolgerungen erlaubt», sagte der
FDP-Politiker am Rande eines Treffens der Finanz- und
Wirtschaftsminister der Euroländer. Er nehme den Vorschlag zur
Kenntnis. Gleichzeitig riet er den anderen Ländern, möglichst keinen
Gebrauch davon zu machen, im kommenden Jahr wieder viele Schulden
aufnehmen zu können. «Man kann abhängig werden von
Staatsverschuldung, und wir müssen die Sucht nach immer mehr
Verschuldung beenden, so schnell wie möglich», sagte Lindner.
Deutschland werde von der allgemeinen Ausweichregel des
Stabilitätspakts keinen Gebrauch machen.

Andere Länder zeigten sich hingegen für die Verlängerung offen. «Wi
r
haben natürlich Verständnis in diesen außergewöhnlichen Zeiten, das
s
man solche Haushaltsregeln überdenken muss», sagte der
österreichische Finanzminister Magnus Brunner. Nach 2024 müsse man
aber zu einer nachhaltigen Fiskalpolitik zurückkehren.

«Wir sind offen für den Vorschlag der Europäischen Kommission», sag
te
auch die niederländische Finanzministerin Sigrid Kaag. Die
Niederlande sind sonst für ihre konservative Haltung in Finanzfragen
bekannt. Südliche Länder wie Spanien und Portugal begrüßten den
Schritt ebenfalls.

Die Schulden- und Defizitregeln waren während der Corona-Krise
ausgesetzt worden und sollten eigentlich ab 2023 wieder gelten. Die
Empfehlung der EU-Kommission wird nun den EU-Ländern vorgelegt, damit
diese ihn billigen können. Die Behörde will zudem nach dem Sommer
konkrete Vorschläge für eine Reform des Stabilitäts- und
Wachstumspakts vorlegen, die dann im Laufe des kommenden Jahres in
Kraft treten könnte.

Der Stabilitäts- und Wachstumspakt sieht vor, dass EU-Länder nicht
mehr als 60 Prozent der Wirtschaftsleistung an Schulden aufnehmen.
Haushaltsdefizite sollen bei 3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts
gedeckelt werden. Viele Länder überschreiten diese Grenzwerte, vor
allem, weil sie sich während der Pandemie viel Geld liehen, um die
Wirtschaft zu stützen.

In ihren jährlichen wirtschaftspolitischen Empfehlungen rät die
EU-Kommission den Ländern nun, in die Energiewende und die
Digitalisierung zu investieren. Gleichzeitig sollten sie ihre
weiteren Ausgaben kontrollieren, insbesondere Staaten mit hohen
Schulden wie Italien. «Wir schlagen keine Rückkehr zu unbegrenzten
Ausgaben vor», sagte Gentiloni. Ziel sei es, von der universellen
Unterstützung während der Pandemie zu gezielteren Maßnahmen
überzugehen.

Die Kommission merkte an, dass auch Deutschland mit einem
Schuldenstand von 69 Prozent des BIP im vergangenen Jahr und einem
Defizit von 3,7 Prozent die Werte überschreitet. Moniert wurde wie in
vorherigen Jahren auch der Leistungsbilanzüberschuss Deutschlands -
also dass unter anderem mehr exportiert als importiert wird - und
eine niedrige Investitionsrate. Dies schaffe ein Ungleichgewicht
gegenüber anderen Ländern.

Die Kommission warnte zudem, dass die deutsche Wirtschaft besonders
von dem Krieg in der Ukraine betroffen sei - etwa wegen der
Abhängigkeit von russischem Gas und anderen Rohstoffen aus Russland
und der Ukraine. «Die Verschärfung von Lieferketten-Engpässen und
gestiegene Kosten und Preise bremsen das Wirtschaftswachstum», hieß
es in dem Bericht. Deutschland müsse seine Abhängigkeit von fossilen
Brennstoffen verringern.

Insgesamt hatte die EU-Kommission die Entwicklung der staatlichen
Haushalte zuletzt positiv bewertet. Die durchschnittliche
Schuldenquote werde in diesem Jahr auf 87 Prozent sinken - im
Vergleich zu 90 Prozent im vergangenen Jahr, hieß es in der
Frühlingsprognose der Behörde. Die durchschnittlichen Defizite sollen
voraussichtlich von 4,7 Prozent auf 3,6 Prozent der
Wirtschaftsleistung sinken. Ihre Wachstumsprognose musste die
EU-Kommission allerdings wegen des Kriegs in der Ukraine anpassen -
von 4 auf 2,7 Prozent für dieses Jahr.