Erst Corona, nun Krieg: Orban hangelt sich von Notstand zu Notstand Von Gregor Mayer, dpa

25.05.2022 13:01

Niemand hat seit dem Ende des Kommunismus in Ungarn vor mehr als drei
Jahrzehnten so viel Macht angehäuft wie Viktor Orban. Jetzt verkündet
der rechtsnationale Politiker wegen des Kriegs in der Ukraine den
Ausnahmezustand. Wozu braucht er den?

Budapest (dpa) - Ungarns rechtsnationaler Ministerpräsident Viktor
Orban entscheidet über praktisch alle wichtigen Fragen in seinem Land
allein. Von ihm hängt nicht nur ab, welche Gesetzesvorlagen ins
Parlament gelangen. Das Plazet für Investitionen, der Höhenflug und
Absturz von Karrieren, die Zuteilung und der Entzug von Pfründen -
alles das geht letztlich über seinen Schreibtisch.

Bei der Machtfülle verwundert es auf den ersten Blick, dass Orbans
erste Amtshandlung nach der Vereidigung seiner neuen Regierung die
Verhängung des Notstands war. Es ging Schlag auf Schlag. Am Dienstag
schuf das Parlament überhaupt erst per Verfassungsänderung die
Grundlage dafür - mit der Kreation des «Notstands wegen eines
bewaffneten Konflikts, einer Kriegslage oder humanitären Katastrophe
in einem Nachbarland». Kurz vor Mitternacht verkündete das Ungarische
Amtsblatt dann den neuen Notstand. Am Mittwoch 00.00 Uhr (MESZ) trat
er in Kraft. Die Ukraine, gegen die Russland seit drei Monaten Krieg
führt, grenzt unmittelbar an Ungarn.

In einem Facebook-Video wandte sich Orban an die Bevölkerung. «Wir
dürfen keine einzige Minute verlieren», sagte er, denn in der
Nachbarschaft herrsche Krieg. Dies bedeute eine ständige Gefahr für
Ungarn. Die physische Sicherheit der Bürger, aber auch ihre
Energieversorgung und ihr Wohlstand stünden wegen der «Brüsseler
Sanktionen» gegen Russland auf dem Spiel. Seine Regierung brauche
deshalb maximale Handlungsfreiheit.

Dabei regiert Orban schon seit dem Ausbruch der Corona-Pandemie im
Frühjahr 2020 auf der Grundlage des Gesundheitsnotstands. Schon dies
ermöglichte es ihm, Gesetze durch Verordnungen außer Kraft zu setzen
und Verordnungen zu erlassen, die Bürgerrechte und Freiheiten
einschränken - was sonst nur durch Gesetze geschehen kann.

Den Corona-Notstand lässt Orban am Ende dieses Monats auslaufen.
Dafür kommt der Ukraine-Notstand - und das obwohl der Ungar keine
Waffen an die Ukraine liefert und auch keine Waffenlieferungen durch
sein Land zulässt. Die Kampfhandlungen verlaufen in gut 1000
Kilometern Luftlinie von der ungarischen Grenze entfernt. Ukrainische
Flüchtlinge ziehen zwar in großer Zahl durch Ungarn, aber bis Mitte
April baten dort gerade mal 16 000 Geflüchtete um Asyl.

«Das Ausnahmerecht ist von nun an das neue Normal», meint die
Juristin Emese Pasztor von der ungarischen Bürgerrechtsorganisation
Tasz. «Mit der letzten Verfassungsänderung hat die Regierung die
Spielregeln ein weiteres Mal den eigenen Bedürfnissen angepasst.» Das
Bestreben, ein ohnehin willfähriges und pflegeleichtes Parlament zu
umgehen, mag absurd erscheinen. Doch Orban schätze den Komfort, seine
Maßnahmen ohne Debatte und Zeitverlust, mit einem einzigen
Federstrich - mit seiner Signatur unter der jeweiligen Notverordnung
- durchsetzen zu können, so die Bürgerrechtlerin.

Schon den Corona-Notstand nutzte Orban für Schachzüge, die nichts
oder wenig mit der Pandemiebekämpfung zu tun hatten. So entzog er
oppositionell regierten Kommunen Geld- und Steuermittel, schränkte
die Versammlungs- und Meinungsfreiheit ein und ließ Geschäftsfreunden
Vorteile zukommen.

Aber schon bevor sich Ungarns starker Mann von Notstand zu Notstand
hangelte, baute er mit Hilfe der parlamentarischen
Zweidrittelmehrheit seiner Fidesz-Partei die Demokratie in Ungarn ab.
Dazu trugen unter anderen das repressive Mediengesetz von 2010,
verschiedene Justizreformen sowie diskriminierende Gesetze gegen
Menschen bei, die nicht hetero-sexuell sind.

Die Europäische Union (EU) steht deshalb mit Orban an mehreren
Fronten auf Kriegsfuß. Unter Verweis auf rechtsstaatliche Defizite
hält die EU-Kommission die für Ungarn vorgesehenen Gelder aus dem
Corona-Hilfsfonds vorerst zurück - da geht es um mehr als sieben
Milliarden Euro. Jetzt droht Orban mit einem Veto gegen das
Ölembargo, das die EU im Rahmen ihres sechsten Sanktionspakets gegen
das Krieg führende Russland plant. Der EU-Gipfel am kommenden Montag
und Dienstag könnte zu einem neuen Show-down mit Ungarns
«Notstands-Kaiser» führen.