Italien und die Seenotrettung - Droht nach der Wahl die Blockade? Von Manuel Schwarz und Michel Winde, dpa

12.08.2022 10:43

Eine staatliche Seenotrettung gibt es im Mittelmeer lange nicht mehr,
stattdessen sind Freiwillige im Einsatz. Aber immer wieder sterben
dort Menschen. Der Wahl in Italien blicken viele mit Sorge entgegen:
Was macht eine mögliche rechte Regierung?

Rom (dpa) - Nach fast zwei Wochen Warten brandet unter den Geretteten
an Bord der «Sea-Eye 4» Jubel auf, Helfer fallen sich in die Arme.
Die deutschen Seenotretter und 87 Migranten dürfen einen Hafen auf
Sizilien ansteuern. Während für sie ein Happy End näher rückt, wage
n
im zentralen Mittelmeer schon wieder neue Migranten die Überfahrt von
Nordafrika gen Süditalien. Die Zahlen steigen.

Zeitgleich zur Kursänderung der «Sea-Eye 4» in Richtung Pozzallo
veröffentlichen drei Parteien der italienischen Mitte-Rechts-Allianz
am Donnerstagabend ihr Programm für den Wahlkampf. Darin ist die Lage
im Mittelmeer ein wichtiger Punkt. Der Willen der Wahlfavoritin
Giorgia Meloni von den postfaschistischen Fratelli d'Italia: eine
Seeblockade schon vor den Küsten Nordafrikas, Camps für die
Geflüchteten, frühzeitiges Aussortieren der Nicht-Asylberechtigten.

Die freiwilligen Helfer sind entsetzt. «Lager für Geflüchtete?»,
fragt Gorden Isler. Derartige Versuche seien schon auf griechischen
Inseln gescheitert, sagt der Vorsitzende des Regensburger Vereins
Sea-Eye und erinnert an teils chaotische Zustände dort in den
vergangenen Jahren. Wegen der griechischen Seeblockaden wagen viele
Migranten riesige Umwege, um etwa von der Türkei oder dem Libanon
direkt nach Italien zu gelangen. «Die Menschen werden Wege finden.
Diese Wege könnten dann noch gefährlicher und noch tödlicher sein.»


Tausende wollen von Nordafrika aus jedes Jahr auf teils klapprigen
Booten Malta oder Süditalien erreichen. Laut Innenministerium in Rom
kamen 2022 bislang rund 45 000 Menschen an den italienischen Küsten
an - im Vergleichszeitraum 2021 waren es gut 32 000. Die Vereinten
Nationen zählten in diesem Jahr bereits mehr als 900 Tote oder
Vermisste im zentralen Mittelmeer.

Am Donnerstag konnten rund 40 Menschen vor der Insel Lampedusa gerde
noch gerettet werden, nachdem ihr Holzboot gekentert war. Papst
Franziskus spricht immer wieder vom «größten Friedhof Europas» und

fordert die Politik zu mehr Humanität gegenüber Flüchtenden auf.

Meloni und ihre zwei Verbündeten Matteo Salvini (Lega) und Silvio
Berlusconi (Forza Italia) haben etwas ganz anderes vor. Bei einem
Wahlsieg am 25. September - und der ist laut Umfragen sehr
wahrscheinlich - wollen sie Italien abriegeln für Migranten. Und die
libyschen Sicherheitskräfte dürften laut Meloni gerne mithelfen.

Für Menschen, die ihre Heimat verlassen und in der Hoffnung auf ein
besseres Leben in Europa die Flucht wagen, ist das ein
Alptraumszenario. Das weiß auch der Bundestagsabgeordnete Julian
Pahlke von den Grünen. Er war seit Ende Juli an Bord der «Sea-Eye 4»

und redete mit den Geretteten über deren Erlebtes. Manche dieser
Berichte ließen ihn abends im Bett noch lange wach bleiben.

«Ein Gast auf dem Schiff erzählte mir von seiner Zeit in Libyen, den
Camps dort, dass durch den aufflammenden Bürgerkrieg in Tripolis in
den Straßen Kämpfe stattfinden und überall geschossen wurde»,
berichtet Pahlke der Deutschen Presse-Agentur. «Er sagte mir, als
schwarzer Mensch hat man in Libyen keine Rechte.» Just dort sollen
Migranten nach dem Wunsch Melonis festgehalten und überprüft werden.

Der Haltung widerspricht in Deutschland der Koalitionsvertrag von
SPD, Grünen und FDP. Die Pflicht zur Seenotrettung steht dort ebenso
wie das Bestreben der Bundesregierung für «eine staatlich
koordinierte und europäisch getragene Seenotrettung im Mittelmeer».

Allein: Bislang ist man auf EU-Ebene nicht weit gekommen mit so einer
Seenotrettung. Zwar gilt in Brüssel als Erfolg, dass die meisten
EU-Staaten sich im Juni auf einen Solidaritätsmechanismus geeinigt
haben, der südliche Länder wie Italien entlasten soll. Doch in Kraft
ist dieser auch knapp zwei Monate später noch nicht.

Es sind 21 Staaten, die den freiwilligen Solidaritätsmechanismus am
22. Juni unterschrieben hatten. Sie können Italien, Spanien, Malta,
Griechenland und Zypern entweder Flüchtlinge abnehmen oder mit Geld
und Sachleistungen helfen. 13 Staaten wollen sich an der Aufnahme von
Flüchtlingen beteiligen, sie haben Zusagen für insgesamt gut 8000
Menschen gemacht. Deutschland nimmt fast die Hälfte (3500), im August
sollen die ersten Menschen aus Italien umgesiedelt werden.

Im Gegenzug für diese Hilfe bekommen die südlichen Staaten neue
Aufgaben bei der Identifikation Schutzsuchender. Wer gar keine
Aussicht auf Asyl hat, soll nach dem Willen der EU-Staaten künftig
sofort abgewiesen werden können - wenn es nach Meloni geht, dann
schon bevor die Menschen italienisches Staatsgebiet erreichen.

So eine Politik werde «dafür sorgen, dass noch mehr Menschen
sterben», sagt Grünen-Politiker Pahlke. Der neue Mechanismus zur
Verteilung in Europa könnte aber «erst der Anfang» sein, hofft er.

Dabei geht die Tendenz der europäischen Asylpolitik seit Jahren
grundsätzlich Richtung Abschottung. Eine staatlich getragene und
EU-koordinierte Seenotrettung scheint undenkbar - zu groß waren auch
die Verwerfungen infolge der großen Fluchtbewegung 2015/16.

Diese Risse könnten wieder aufreißen, wenn Meloni Regierungschefin
wird. Eine zerstrittene EU - diese Idee dürfte dem russischen
Präsidenten Wladimir Putin gefallen. Die italienische Zeitung «La
Repubblica» berichtete zuletzt sogar, dass nach Einschätzung der
Geheimdienste die Söldner der russischen Wagner-Gruppe und die
verbündeten Milizen von General Haftar in Libyen bewusst viele
Migranten zu den Überfahrten drängen. Damit soll Italien unter Druck
gesetzt werden.

EU-Innenkommissarin Ylva Johansson widerspricht dieser Analyse
jedoch. «Nein, wir haben keine wirklichen Anzeichen dafür, dass er
(Putin) eine hybride Drohung gegen die EU einsetzen wird», sagte die
Schwedin kürzlich auf dpa-Frage. Zugleich traue sie Putin jedoch
keine Sekunde. Er wolle nicht nur die Ukraine zerstören, sondern auch
die EU destabilisieren. «Wir müssen also äußerst wachsam bleiben.
»