EU-Innenkommissarin kündigt nach Pipeline-Lecks Belastungstests an

29.09.2022 04:40

Wer hinter den Lecks in den Ostsee-Pipelines Nord Stream 1 und 2
steckt, bleibt die entscheidende Frage. Doch zunehmend rückt ein
weiterer Aspekt in den Blick: Wie sicher sind Deutschland und Europa
vor Angriffen auf die kritische Infrastruktur?

Berlin (dpa) - EU-Innenkommissarin Ylva Johansson hat die mutmaßliche
Sabotage an den Ostsee-Pipelines Nord Stream 1 und 2 als Warnruf
bezeichnet und einen Belastungstest für die kritische Infrastruktur
in Europa angekündigt. «Wir (die EU-Kommission) werden uns jetzt an
alle Mitgliedstaaten wenden und wir werden einen Belastungstest
durchführen in Bezug auf die kritische Infrastruktur», sagte die
Schwedin am Mittwochabend im ZDF-«heute journal». Angesichts der
Lecks in den Pipelines sprach sie von einem «Anschlag», der eine
«Eskalation» und «eine Bedrohung» sei. «Soweit ich es beurteilen

kann, ist es ein sehr intelligenter Anschlag, der nicht verübt worden
sein kann von einer normalen Gruppe von Menschen», sagte die
Kommissarin. Das Risiko sei groß, dass ein Staat dahinter stehe. «Wir
haben natürlich einen Verdacht. Aber es ist zu früh, das abschließend

zu beurteilen.»

Ähnlich vorsichtig äußerte sich auch der Sprecher des
US-Außenministeriums, Ned Price, zu möglichen Verursachern der
Pipeline-Lecks. «Wir haben derzeit mehr Fragen als Antworten.» Die
US-Regierung wolle keine Mutmaßungen über mögliche Hintermänner ein
er
Sabotage-Aktion anstellen, bis Untersuchungen an den Erdgasleitungen
abgeschlossen seien.

In der Nacht zum Montag war zunächst in einer der beiden Röhren der
nicht genutzten Pipeline Nord Stream 2 ein starker Druckabfall
festgestellt worden. Später meldete der Nord-Stream-1-Betreiber einen
Druckabfall auch in diesen beiden Röhren. Dänische Behörden
entdeckten schließlich insgesamt drei Lecks an den beiden Pipelines.
Mehrere Länder brachten bereits am Dienstag einen Anschlag auf die
europäische Gasinfrastruktur als Ursache für die als beispiellos
geltenden Schäden ins Spiel. Die EU und die Nato gehen von Sabotage
aus. Der Kreml hatte am Mittwoch Spekulationen über eine russische
Beteiligung an der Beschädigung der Pipelines als «dumm und absurd»
zurückgewiesen.

Die russische Generalstaatsanwaltschaft leitete derweil nach eigenen
Angaben ein Verfahren wegen internationalen Terrorismus ein. Moskau
begründete den Schritt damit, dass mit der Beschädigung der Pipelines
«Russland erheblicher wirtschaftlicher Schaden zugefügt» worden sei.


Gazprom hatte bis Ende August durch Nord Stream 1 Gas nach Europa
gepumpt, diese Lieferungen dann aber unter Verweis auf technische
Probleme, die sich wegen Sanktionen angeblich nicht lösen ließen,
eingestellt. Die Bundesregierung nannte die Begründung vorgeschoben
und vermutete politische Beweggründe hinter dem Lieferstopp.

Nord Stream 2 war ebenfalls mit russischem Gas befüllt. Moskau hat
die Pipeline in den vergangenen Monaten immer wieder als möglichen
Ersatz für Nord Stream 1 angeboten, allerdings wurde die Leitung von
Deutschland nicht zertifiziert. Seit dem Beginn des russischen
Angriffskriegs gegen die Ukraine gilt eine Inbetriebnahme als
ausgeschlossen.

Die als kremlnah geltende Internetzeitung lenta.ru berichtete, dass
ein US-Hubschrauber von Sonntagabend bis Montagmorgen neun Stunden
lang etwa 250 Kilometer von der dänischen Insel Bornholm entfernt
über die Ostsee gekreist sei. Die Zeitung berief sich auf Daten von
Flightradar. Der Mehrzweck-Helikopter MH-60R Strike Hawk könne auch
Unterwasserziele bekämpfen, betonte die Internetzeitung. Die
Pipeline-Lecks befinden sich in internationalen Gewässern in den
Wirtschaftszonen Dänemarks und Schwedens in der Nähe von Bornholm. In
der Region wurden Anfang der Woche Explosionen registriert.

US-Verteidigungsminister Lloyd Austin sprach wegen der
Pipeline-Vorfälle mit seinem dänischen Kollegen Morten Bødskov. Dabei

bot Lloyd Dänemark mit Blick auf die beginnenden Untersuchungen der
«Explosionen» die «volle Unterstützung» der US-Regierung an, wie
das
Ministerium am Mittwoch (Ortszeit) mitteilte. «Die Vereinigten
Staaten bleiben der Sicherheit in der Ostsee und ihrem langjährigen
Verbündeten Dänemark verpflichtet», hieß es. Die Minister seien sic
h
einig gewesen, im weiteren Verlauf der Angelegenheit
zusammenarbeiten, so das US-Ministerium.

Ein UN-Sprecher äußerte sich unterdessen besorgt über die möglichen

Auswirkungen der Pipeline-Lecks auf die Umwelt. Man hoffe, das die
zuständigen Stellen, die Lecks schnellstmöglich versiegelten.

Ex-BND-Präsident Gerhard Schindler vermutet Russland hinter den
Pipeline-Lecks, weil es seiner Ansicht nach die meisten Vorteile von
den Beschädigungen hat. «Der Stopp der Gaslieferungen kann jetzt
einfach unter Hinweis auf die defekten Leitungen begründet werden,
ohne dass man angebliche Turbinenprobleme oder andere wenig
überzeugende Argumente für den Bruch der Lieferverträge vorschieben
muss», sagte Schindler der «Welt». Eine «unbemerkte, konspirative
Beschädigung von Pipelines in 80 Meter Tiefe in der Ostsee» weise
zudem klar auf einen staatlichen Akteur hin. Schindler war von Ende
2011 bis Mitte 2016 Chef des BND.