Bundesregierung gegen Aufnahme von neuen EU-Schulden in Energiekrise

04.10.2022 16:45

In der Debatte um europäische Maßnahmen gegen die hohen Energiepreise
will die Bundesregierung nicht auf neue europäische Kreditprogramme
hinwirken. Für den deutschen «Doppelwumms» mit neuen nationalen
Schulden über bis zu 200 Milliarden Euro hagelt es Kritik.

Luxemburg/Berlin (dpa) - Die Bundesregierung hat sich in der
Diskussion über eine europäische Antwort auf die Energiekrise gegen
neue gemeinsame EU-Kreditmaßnahmen positioniert. Bundeskanzler Olaf
Scholz (SPD) verwies vor Journalisten in Berlin darauf, dass der
Wiederaufbaufonds aus der Corona-Krise noch nicht ausgeschöpft sei.
«Da haben wir ein riesiges Programm von zusammen 750 Milliarden Euro,
von dem das allermeiste Geld noch nicht in Anspruch genommen worden
ist, aber gerade jetzt besonders wirksam sein kann», sagte der
SPD-Politiker am Dienstag. Diese Mittel könnten jetzt helfen.

Die Finanz- und Wirtschaftsminister einigten sich am Dienstag in
Luxemburg darauf, Gelder aus dem Corona-Aufbaufonds teils für
Investitionen in die Energiewende umzufunktionieren. Die
EU-Kommission hatte im Mai angekündigt, dass noch 225 Milliarden Euro
an Darlehen aus dem Corona-Aufbauinstrument RRF dafür zur Verfügung
stünden. Zusätzlich wollen die Minister 20 Milliarden aus anderen
Quellen bereitstellen. Das Vorhaben muss noch mit dem EU-Parlament
verhandelt werden.

Auch Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) äußerte sich
skeptisch gegenüber neuen EU-Kreditmaßnahmen. «Diese Krise
unterscheidet sich von der Corona-Pandemie sehr deutlich», sagte
Lindner am Rande des Treffens in Luxemburg. Instrumente, die während
der Corona-Pandemie eingesetzt worden seien, könne man nicht eins zu
eins auf das gegenwärtige Szenario anwenden.

EU-Wirtschaftskommissar Paolo Gentiloni scheint anderer Meinung zu
sein. «Wenn wir eine Zersplitterung vermeiden und diese Krisen
bewältigen wollen, brauchen wir meiner Meinung nach ein höheres Maß
an Solidarität und müssen andere gemeinsame Instrumente einführen»,

sagte Gentiloni am Dienstagmorgen in Luxemburg. Er nannte als
Beispiel das Sure-Programm, welches in der Pandemie besonders ärmeren
Ländern Kurzarbeitprogramme durch günstige EU-Kredite ermöglicht hat.

Es besteht separat vom Corona-Aufbaufonds. Lindner hält Vorschläge,
die sich an das Sure-Programm anlehnen, derzeit jedoch nicht für
geeignet, wie er in Luxemburg klarstellte.

Deutschland hatte zuvor viel Kritik für den von Kanzler Scholz als
«Doppelwumms» bezeichneten Abwehrschirm über bis zu 200 Milliarden
Euro geerntet, der Haushalte und Unternehmen angesichts der hohen
Energiepreise schützen soll. Da Russland kaum noch Gas an Europa
liefert, sind die Gas- und auch die Strompreise stark angestiegen.
Länder wie Italien, Spanien und Luxemburg hatten das deutsche Paket
als Alleingang gewertet und europäische Maßnahmen gefordert. Es wurde
etwa befürchtet, dass Deutschland sich dadurch einen Vorteil
gegenüber anderen Ländern verschaffen könnte.

Gentiloni und sein Kollege, Industriekommissar Thierry Breton,
schrieben in einem Gastbeitrag in der «Frankfurter Allgemeinen
Zeitung», das deutsche Paket werfe Fragen auf. «Was heißt das für d
ie
Mitgliedstaaten, die nicht über denselben haushaltspolitischen
Spielraum wie Deutschland verfügen, um ihre Unternehmen und Haushalte
vergleichbar zu unterstützen?» Man müsse mehr denn je vermeiden, den

Wettbewerb im Binnenmarkt zu verzerren, schrieben die Kommissare.

Lindner verteidigte sich gegen die Kritik am deutschen Paket. «Unsere
Maßnahme ist zielgerichtet und bezieht sich auf die Jahre 2022, 2023
und 2024.» Nach Ansicht des FDP-Politikers steht es in Relation zur
deutschen Wirtschaftsmacht. «Es ist proportional, wenn man die Größe

und die Vulnerabilität der deutschen Wirtschaft betrachtet.»

Mit dem Abwehrschirm will die Bundesregierung Verbraucher und
Unternehmen vor hohen Energiepreisen wegen des Ukraine-Kriegs
schützen - etwa durch Hilfen für Unternehmen und vergünstigten Strom

und Gas für Haushalte und Firmen. Viele Details sind aber noch offen.
Daher lässt sich noch nicht sagen, ob das Paket tatsächlich gegen die
europäischen Wettbewerbsregeln verstößt.

Lindner machte sich zudem für europäische Gaseinkäufe stark, um das
Angebot von Gas auszuweiten. «Wir müssen beim gemeinsamen Gaseinkauf
Fortschritte machen», sagte Lindner. Darauf hatten sich die
EU-Staaten bereits im März geeinigt, eine gemeinsame
Koordinierungsplattform hat jedoch bislang wenig Konkretes geliefert.

Die Diskussion um europäische Maßnahmen in der Energiekrise wird
spätestens Ende der Woche beim Gipfel der Staats- und Regierungschefs
in Prag weiterlaufen. Im Gespräch ist unter anderem auch ein
europäischer Gaspreisdeckel, den über die Hälfte der Staaten
inzwischen fordern, die Bundesregierung bislang allerdings skeptisch
sieht.