Merkel führt EU aus zweijähriger Krise - Bis 2009 Reform-Vertrag

24.06.2007 13:16

Brüssel (dpa) - Die Europäische Union gewinnt für ihre 490
Millionen Bürger die Gestaltungskraft für mehr soziale und innere
Sicherheit zurück. Nach zwei Jahren politischer Lähmung einigten sich
die 27 Staats- und Regierungschefs unter dem Vorsitz von
Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) am Samstag in Brüssel auf den
Rahmen für einen neuen EU-Vertrag. Das Reform-Projekt soll von 2009
an gelten. Die EU will demokratischer, reaktionsschneller und
geeinter auf Herausforderungen wie den Terrorismus, die
wirtschaftliche Konkurrenz aus Asien und Amerika sowie die sozialen
Nöte ihrer Gesellschaften reagieren.

Nach Abschluss der nur selten unterbrochenen 36-stündigen
Verhandlungen sagte EU-Ratspräsidentin Merkel, sie sei mit dem
Ergebnis trotz massiver Zugeständnisse an Polen und Großbritannien
zufrieden: «Das zeigt, dass Europa am Ende zusammenkommt.» Jeder habe
Kompromisse machen müssen. Führende Politiker von SPD und
CDU/CSU würdigten den Kompromiss auch als Erfolg der Kanzlerin.
Kritische Töne kamen von den Grünen, der FDP und der Linken.

Polen und Großbritannien hatten seit Beginn des Krisengipfels am
Donnerstagabend auf Konfrontation gegen die deutsche
Ratspräsidentschaft gesetzt. Erst nach massiven Zugeständnissen der
Partner lenkten der polnische Staatschef Lech Kaczynski und der
britische Premier Tony Blair ein und machten so den Kompromiss
möglich. In den europäischen Hauptstädten würdigten Spitzenpolitike
r
die Einigung als ausgewogen.

Die Verfechter der 2005 bei Volksabstimmungen in Frankreich und
den Niederlanden gescheiterten Verfassung mussten hinnehmen, dass
nicht alle Reformen in dem neuen Vertrag zu retten waren.

Demnach kommen von 2009 an fundamentale Neuerungen in der EU:
- ein EU-Präsident wird für zweieinhalb Jahre die politischen
Geschäfte führen und mit den Staats- und Regierungschefs abstimmen;

- Mehrheitsentscheidungen werden auf die Innen- und Justizpolitik
ausgeweitet;

- ein Spitzendiplomat wird die EU außen- und sicherheitspolitisch
vertreten; auf Drängen Großbritanniens wurde der noch in der
Verfassung vorgesehene Titel «EU-Außenminister» gestrichen;

- es wird eine Grundrechte-Charta verankert, die aber keine
Rechtskraft in Großbritannien haben soll;

- auf Drängen Polens, das erfolgreich seinen Einfluss bei Beschlüssen
in den Ministerräten verteidigte, kommen die neuen Abstimmungsregeln
- die so genannte doppelte Mehrheit (55 Prozent der EU-Staaten und 65
Prozent der Bevölkerung) - erst schrittweise von 2014 an. Die
doppelte Mehrheit stärkt Länder mit großer Bevölkerungszahl wie
Deutschland.

Am Freitag reizten der polnische Präsident und dessen Bruder,
Regierungschef Jaroslaw Kaczynski, ihre Forderungen bis zum Äußersten
aus. Zuletzt erreichten sie, dass ihrem Land bis 2017 das
Stimmgewicht des geltenden Vertrages von Nizza zusteht. Der seit 2003
geltende Nizza-Vertrag macht Polen bei Abstimmungen in der EU -
gemessen an der Größe seiner Bevölkerung - zu einem Schwergewicht.

Um die Briten für den Kompromiss zu gewinnen war entscheidend, die
neue Grundrechtecharta in einem gesonderten Protokoll festzuhalten.
Die Charta ist nun in Großbritannien nicht einklagbar. Der Regierung
in London werden zudem nationale Ausnahmen in der EU-Innen-
und Justizpolitik zugestanden. Dennoch forderte die konservative
Opposition eine Volksabstimmung der europaskeptischen Briten über den
Grundlagenvertrag.

Im Verlauf des Freitags sah es zeitweise so aus, als ob Merkel mit
ihrer Taktik scheitern könnte. Ihre Absicht, die Reform-Verhandlungen
notfalls ohne Polen voranzutreiben, stieß in der Gipfelrunde auf
massiven Widerstand von Ländern wie Litauen und Tschechien. Nach der
Drohung Merkels, Polen zu isolieren, versuchten Luxemburgs
Regierungschef Jean-Claude Juncker sowie Blair und der französische
Präsident Nicolas Sarkozy, Polen auf Kurs zu bringen. Merkel
verteidigte später ihr Vorgehen. Es habe die Gefahr bestanden, «dass
wir heute Abend in einem ziemlichen Desaster auseinander gehen».

Präsident Kaczynski freute sich über seinen Erfolg. Sarkozy hob
hervor, dass Polen nicht isoliert worden sei. «Wir haben unsere
Arbeit gemacht, ohne jemand zurückzulassen», sagte er. Juncker war
unzufrieden mit der Einigung: «Ich bin überzeugt, dass der
Verfassungsvertrag wesentlich besser war. Was jetzt herausgekommen
ist, ist zufrieden stellend, mehr nicht.»

Sarkozy hob die Anstrengungen des britischen Premierministers
Blair hervor, der seinen letzten Gipfel vor der Amtsübergabe an
seinen Nachfolger Gordon Brown absolvierte. Der italienische
Ministerpräsident Romano Prodi kritisierte hingegen das Verhalten des
Briten, der «eine unterschiedliche Vorstellung von Europa» habe. Der
niederländische Ministerpräsident Jan Peter Balkenende meinte, mit
dem Ergebnis könne Europa vorankommen. Die Regierungen von Dänemark,
Schweden und Belgien zeigten sich zufrieden mit den Ergebnissen.

In Berlin lobte der SPD-Vorsitzende Kurt Beck die Kanzlerin: «Der
heutige Tag ist ein guter Tag für Europa. Was in dieser unglaublich
schwierigen Situation erreicht worden ist, ist uns Respekt und
Unterstützung wert.» Unions-Fraktionschef Volker Kauder sprach von
einer «diplomatischen Meisterleistung» Merkels. Bayerns
Ministerpräsident und CSU-Chef Edmund Stoiber sagte, es sei gelungen,
den Stillstand in Europa zu überwinden.

Von Martin Romanczyk, dpa
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