«Mythos TTIP» - wie Sigmar Gabriel das Handelsabkommen retten will Von Tim Braune und André Stahl, dpa

05.05.2014 16:47

Job-Maschine oder Gefahr für Europas Werte? Am geplanten
Freihandelsabkommen zwischen der EU und den USA scheiden sich die
Geister. Beim TTIP-Gipfel in Berlin legt sich Wirtschaftsminister
Gabriel mit den Kritikern an.

Berlin (dpa) - Wenn Sigmar Gabriel etwas stinkt, kann man die Uhr
danach stellen, wann der SPD-Chef seine Gefühle herauslässt. So ein
Moment ist am Montag in der prächtigen Aula seines
Bundeswirtschaftsministeriums zu beobachten. Der Saal ist proppevoll.
Gabriel hat zur Diskussion über das Freihandelsabkommen zwischen
Europa und den USA eingeladen.

Ein Megaprojekt, das polarisiert, das bei Bürgern Ängste weckt - vor
mit Chlor desinfizierten Hühnchen, vor chemisch belasteten
Baby-Schnullern aus Übersee und skrupellosen US-Investoren, die das
heimische Wasserwerk aufkaufen und bei Widerstand den überforderten
Bürgermeister oder gleich die Bundesregierung vor einem namenlosen
Schiedsgericht auf gigantischen Schadenersatz verklagen.

Gabriel nimmt diese Sorgen ernst. Jedenfalls hat er es sich
vorgenommen. Befürworter und Gegner sollen sich unter
der Schirmherrschaft des Vizekanzlers zuhören, im besten Fall den
anderen verstehen und mithelfen, dass vielleicht Ende 2015 das
Abkommen fertig ist, wie Kanzlerin Angela Merkel es gerade bei ihrer
USA-Reise verkündet hatte.

Den weiten Weg aus Washington hat Chef-Verhandler Michael Froman auf
sich genommen, aus Brüssel EU-Handelskommissar Karel de
Gucht. Daneben sitzen dicht gedrängt Dutzende Vertreter aus der
Wirtschaft, Umwelt- und Verbraucherschützer.

Aus dem Meer dunkler Anzüge und Kostüme leuchten ein roter Pulli und
ein roter Haarschopf auf. Maritta Strasser kämpft für die
Protestbewegung Campact gegen das Abkommen. Stolz trägt sie vor, dass
470 000 Bürger den Protest gegen das Vertragswerk mit dem sperrigen
Namen «Transatlantische Handels- und Investitionspartnerschaft» -
kurz TTIP - unterschrieben haben.

Ungefähr so viele Mitglieder führt Gabriel als Parteichef der
Sozialdemokraten. Die Zahl regt ihn auf. Was denn das Ganze soll,
empört er sich. Immer diese Dagegen-Haltung. Unterschriften sammeln
gegen etwas, was es noch gar nicht gibt. «Wo hier im Saal keiner
weiß, was drinsteht, Sie auch nicht», hält er der Campact-Aktivistin

vor, die errötet an der Wand lehnt.

De Gucht, der liberale EU-Kommissar aus Belgien, macht gleich mit. Er
lese ja in seinen Mails auch, was Campact alles so treibe. Er
persönlich aber versuche, für 500 Millionen Europäer zu sprechen. Ein

Totschlagsargument. Typischer Reflex der TTIP-Befürworter, genervt
vom Wirbel der Nichtregierungsorganisationen? Später sagt de Gucht
vor Journalisten, bestimmte TTIP-Gegner würden bewusst lügen, um den
Gesprächen mit den USA zu schaden. Etwa beim Fleisch: «Es wird kein
Hormonfleisch in Europa geben.»

Gabriel allerdings treibt es auch nicht auf die Spitze. Versöhnlich
klingt seine Analyse, dass die 470 000 Unterschriften ja dann doch
ein Beweis dafür seien, dass die Geheimniskrämerei von Washington und
Brüssel zu Beginn der Verhandlungen TTIP zu einem Mythos gemacht
habe. Diese bösen Geister müsse die Politik vertreiben: «Wir sollten

nicht gegen Mythen kämpfen, sondern gegen schlechte Verträge.» Dabei

sollten einige in Europa von ihrem hohen Ross herunterkommen, etwa
beim Streit mit den USA um Gentechnik in der Landwirtschaft: «Bei
keinem Thema wird so viel gelogen in den Abstimmungen der EU wie bei
der Gentechnik», sagt Gabriel.

Als die Übersetzung sein Ohr erreicht hat, muss Froman schmunzeln.
Der Amerikaner, den alle kumpelhaft «Mike» nennen und der als
Vertrauter von US-Präsident Barack Obama eine Schlüsselrolle bei TTIP
hat, tritt ansonsten ziemlich abgeklärt auf. Er kennt die Deutschen
gut. In Berlin wurde sein Vater geboren, als Kind lebte Froman
zeitweise in der geteilten Stadt. Ein höflicher Mensch, beim
Geschäftlichen aber knallhart.

US-Konzerne wollten laxe Vorschriften aus der Heimat in Europa
durchsetzen? «Ich bin mir ziemlich sicher, dass wir nicht Babys
füttern mit Chemikalien, die wir nicht vorher getestet haben.» Das
Kapitel zum Schutz von Investoren und zur Anrufung von
Schiedsgerichten ganz streichen, wie Gabriel das will? Nicht mit
Froman. Alle Vertragsinhalte transparent ins Internet stellen? Sorry,
da hätten die Amerikaner eben eine andere Tradition, erklärt der Gast
und viele im Saal denken wohl an den US-Geheimdienst NSA. Am Ende
fährt Deutschland-Kenner Froman doch noch mit einer neuen Erkenntnis
zurück nach Washington: «Ich bin überrascht, wie die Leute hier
zwischen guten und schlechten Ländern unterscheiden.»