Flüchtlingselend in Europa wird zum Déjà-vu für Opfer der Nazi-Zeit Von Eva Krafczyk, dpa

05.09.2015 06:30

Die Bilder vom Elend der Flüchtlinge und den Tragödien auf ihrem Weg
nach Europa reißen bei Holocaust-Überlebenden alte Wunden auf.
Erinnerungen an die verzweifelte Suche nach einem sicheren Land
werden wach.

Warschau/Budapest (dpa) -  Es gibt viel Solidarität mit Flüchtlingen

zu beobachten in diesen Tagen, aber auch Ablehnung, Gleichgültigkeit,
und eine Bürokratie, die aus Menschen Nummern macht. Bilder von
überfüllten Booten und toten Kindern an den Ufern des Mittelmeers,
vom ungarischen Grenzstacheldraht gegen Flüchtlinge, von den Nummern,
die bei einem Flüchtlingstransport auf die Hände von Syrern,
Eritreern oder Afghanen gekritzelt werden - sie lassen alte Wunden
aufreißen und Alpträume wiederkehren, nicht nur bei Roman Kent.

Der 86-jährige Präsident des Internationalen Auschwitz-Komitees, der
im polnischen Lodz geboren wurde und heute in den USA lebt, hat
Auschwitz, Dachau und andere deutsche Konzentrationslager überlebt.
Was er jetzt sieht, erinnert Kent an die verzweifelte Suche der
europäischen Juden nach einer sicheren Zuflucht. «Damals war das Boot
voll, und die Herzen waren leer», sagte er vor wenigen Tagen bei
einer Begegnung mit deutschen Jugendlichen in der Gedenkstätte
Auschwitz.

Und auch bei anderen werden nun böse Erinnerungen wach. «Das ist ein
Bild, das wir nicht ertragen können», sagte Ruth Dureghello,
Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Roms, über die Markierung von
Flüchtlingen mit Filzstiften durch tschechische Polizisten. Bilder
davon sorgten in Sozialen Netzwerken über die Landesgrenzen hinaus
für Empörung.

Maram Stern, Vize-Generalsekretär des Jüdischen Weltkongresses,
schrieb in einem Kommentar: «Viele Juden blenden beim Anblick der
Flüchtenden im kollektiven Gedächtnis wahrscheinlich 80 Jahre
zurück.» Auch damals seien die Grenzen der meisten Staaten
geschlossen gewesen. Schlimmer noch: «Flüchtende Juden wurden von
manchen Ländern sogar nach Nazi-Deutschland zurückgeschickt, als
schon klar war, was sie dort erwarten würde.» Die Grenzen Europas
dicht zu machen, sei damals wie heute nicht die passende Antwort.

Mit dem Bau eines Zaunes aus rasiermesserscharfem Nato-Stacheldraht
an seiner Grenze zu Serbien hat Ungarn auf die Tausenden Menschen
reagiert, die über die sogenannte Balkan-Route nach Europa zu
gelangen versuchen. Ungarische Holocaust-Überlebende klagen seit
langem über den innenpolitischen Kurs des rechtskonservativen
Regierungschefs Viktor Orban, über Hetze gegen die Roma-Minderheit,
wodurch sich auch die ungarischen Juden an die Pogromstimmung vor
fast 80 Jahren erinnert fühlen.

Und nun dieser Zaun. «Jüdische Auschwitz-Überlebende in Ungarn
empfinden das Taktieren ihrer Regierung in der Flüchtlingsfrage als
abstoßend» sagt Christoph Heubner, Vize-Exekutivpräsident des
Internationalen Auschwitz-Komitees.

Die Szenen auf dem Budapester Bahnhof Keleti wühlten viele
Überlebende auf, sagt Heubner. «Sie sehen Familien, Frauen und
Kinder, Menschen, die verzweifelt versuchen, zusammenzubleiben, um
ein Ziel der Hoffnung zu erreichen - und das alles erinnert sie fatal
an ihr eigenes Schicksal, ihre eigenen Ängste und die
Gleichgültigkeit so vieler, die ihrem Elend zugesehen haben.»

Umso wichtiger sind gerade für einstige Nazi-Opfer die anderen
Bilder, die von Solidarität und Hilfsbereitschaft. «Es ist wichtig,
dass Deutschland in der Flüchtlingsfrage eine Haltung an den Tag
legt, die nicht auf Abschottung zielt, sondern auf menschliche
Lösungen», betont Stern. «Deutschland zieht die richtigen Lehren aus

seiner Geschichte. Die Judenverfolgung der Nazis und später der
Zweite Weltkrieg waren damals ursächlich für gewaltige
Flüchtlingsströme. Die gewaltige Welle der Solidarität überrascht,

aber sie tut gut.»

Ganz so positiv sieht Kent die Lage nicht. «Wie über die Not und die
Probleme der Flüchtlinge heute an vielen Orten gesprochen wird, das
ist gefühlskalt und hetzerisch», meint er. «Ich bin mir nicht mehr
sicher, ob die Welt, in die heute Kinder hineingeboren werden, nicht
noch weniger vertrauenswürdig ist als die, in die wir hineingeboren
wurden. Das ist ein sehr bitteres Fazit für einen alten Mann.»