Merkels Entscheidung - Wie eine Nacht das Land verändert Von Kristina Dunz und Kay Nietfeld , dpa

26.08.2016 07:15

Vor einem Jahr lässt Kanzlerin Merkel in einer Ausnahmesituation
Tausende Flüchtlinge ohne große Kontrollen ins Land kommen. Sie
bewegt die Welt - doch in Deutschland wächst auch die Kritik. Ein
Rückblick auf dramatische, wohl historische Tage.

Berlin (dpa) - Es ist die Nacht vom 4. auf den 5. September 2015, in
der Kanzlerin Angela Merkel eine folgenschwere Entscheidung trifft.
In Ungarn wird das Versagen der Europäischen Union (EU) in der
Flüchtlingspolitik für alle Welt sichtbar, der rechtsnationale
Ministerpräsident Victor Orban verschärft die Lage mit Zäunen und
Abschottungsrhetorik. Tausende Flüchtlinge, viele davon aus dem
Bürgerkriegsland Syrien, flehen um Hilfe. Hunderte machen sich zu Fuß
auf gen Westen. Merkel und Österreichs damaliger sozialdemokratischer
Kanzler Werner Faymann befürchten Tote. Sie entscheiden, die Menschen
unbürokratisch in ihre Länder zu lassen. Was eine Ausnahme sein soll,
entwickelt eine eigene Dynamik. Merkel sagt: «Wir schaffen das.» Sie
sagt es bis heute. Ein Rückblick auf eine dramatische Lage.

VORLAUF: Im Frühjahr ertrinken an einem einzigen Tag fast 1000
Menschen im Mittelmeer, nachdem ihr Boot auf dem Weg von Libyen nach
Italien gekentert ist. Die EU-Staats- und Regierungschefs sind noch
so mit dem griechischen Schuldendesaster beschäftigt, dass sie sich
nicht gleich der nächsten Krise stellen - die viel schlimmer werden
wird. Im Sommer verdoppelt sich die Zahl der in Deutschland
ankommenden Flüchtlinge und Migranten von Monat zu Monat. Im August
sprechen die Behörden von wohl 800 000 Flüchtlingen 2015.

Am 27. August wird in Österreich ein abgestellter Kühllaster
entdeckt. Seine Fracht: 71 Flüchtlinge - alle tot. Am 31. August sagt
Merkel in ihrer Jahrespressekonferenz zur Flüchtlingskrise: «Wir
schaffen das, und wo uns etwas im Wege steht, muss es überwunden
werden.» Zwei Tage später wird Aylan Kurdi, drei Jahre alt, syrisches
Flüchtlingskind, an der türkischen Küste angespült. Ertrunken. Das

Bild geht um die Welt. Am 3. September spitzt sich die Lage in
Budapest zu. Tausende sitzen fest. Victor Orban spricht von einem
«deutschen Problem»: Die Flüchtlinge wollten nach Deutschland.

DIE NACHT DER ENTSCHEIDUNG, 4./5. SEPTEMBER:

08.30 Uhr: Merkel ist zur Besprechung - genannt Morgenlage - im
Kanzleramt, bevor sie nach München fliegt. Nicht zur Gedenkfeier zum
100. Geburtstag des CSU-Übervaters Franz Josef Strauß. Sondern zu
einer Schule in Buch am Erlbach und einem Unternehmen in Garching. Es
gibt Befürchtungen, dass die Situation in Ungarn eskaliert. In einer
Runde mit Kanzleramtschef Peter Altmaier (CDU) wird der Verdacht
geäußert, Orban mache das mit Absicht, um Druck aufzubauen. Ein
anderer sagt, dem Law-and-Order-Mann entgleite die Sache.

Vormittags: Viele Hundert Menschen machen sich vom Budapester
Ostbahnhof zu Fuß auf in Richtung Österreich. Die Grenze liegt etwa
175 Kilometer entfernt. Am Ende sind es wohl 2000 Menschen - Kinder,
Frauen, viele junge Männer, aber auch Alte, Verletzte. Einige
schleppen sich auf Krücken oder werden im Rollstuhl gefahren. Einer
trägt ein Bild von Merkel vor der Brust. Ein «Marsch der Hoffnung».

Mittags: Vor Journalisten sagt Regierungssprecher Steffen Seibert:
«Der Umstand, dass Deutschland syrische Flüchtlinge derzeit nicht
nach Ungarn zurückschickt (...), ändert nichts an der rechtlich
verbindlichen Pflicht Ungarns, ankommende Flüchtlinge ordnungsgemäß
zu registrieren, zu versorgen und die Asylverfahren unter Beachtung
der europäischen Standards in Ungarn selbst durchzuführen.»

16.30 Uhr: Merkel ist nach Essen zu einer Veranstaltung der CDU Ruhr
zur Oberbürgermeisterwahl gefahren. Sie warnt: «Es kann nicht sein,
dass wir oder fünf Länder die ganze Last tragen.» Dort werfen ihr
Kritiker noch eine herzlose Flüchtlingspolitik vor. Ein Journalist
beobachtet, wie eine Frau der Kanzlerin das Foto mit dem
Flüchtlingsjungen Aylan zusteckt.

18.30 Uhr: Merkel ist mit dem Hubschrauber nach Köln geflogen, um
auch bei «70 Jahre CDU» dabei zu sein. Sie will ihre Christdemokraten
bei der Ehre packen und erinnert an die Parteigründer: «Wenn die den
ganzen Tag überlegt hätten, ob sie das nun schaffen, oder ob sie es
nicht schaffen, dann wären wir heute nicht da, wo wir heute sind.»

Österreichs Kanzler Faymann versucht, Merkel anzurufen. Er kann sie
aber nicht erreichen, weil sie auf der Bühne steht. Er will sie
bitten, in einem gemeinsamen Akt der Humanität die Flüchtlinge
erstmal einfach einreisen zu lassen. Sie stehen ja schon fast vor
seiner Tür. Allein möchte er diesen Schritt nicht wagen und hofft auf
die deutsche Amtskollegin.

Nach der CDU-Veranstaltung kommt das Gespräch zustande. Es geht um
eine Ausnahmeregelung, alle Augen bei den Formalien zuzudrücken.
Keine bürokratischen Hürden, keine großen Kontrollen. Bei den
Geheimdiensten läuten die Alarmglocken. Sie fürchten, dass
Terroristen ins Land kommen. Später machen sie die Erfahrung, dass
sich Mörder der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) durchaus gern
registrieren lassen wollen, um die Flüchtlinge zu diskreditieren.

Gegen 20.30 Uhr: Merkel berät sich mit Altmaier, der auf dem Weg ins
französische Evian zu einer Veranstaltung ist. Sie erwischt ihn am
Genfer Flughafen. Informiert werden noch Innenminister Thomas de
Maizière (CDU), der mit hohem Fieber daniederliegt, Außenminister
Frank-Walter Steinmeier (SPD), der gerade mit seinen EU-Amtskollegen
in Luxemburg zusammensitzt, und Vize-Kanzler Sigmar Gabriel (SPD).
Jetzt überschlagen sich die Ereignisse.

Gegen 21 Uhr: In Budapest tagte gerade der Krisenstab der Regierung.
Orbans Staatskanzleichef Janos Lazar verkündet danach, alle
gestrandeten Flüchtlinge sollten zur österreichischen Grenze gebracht
werden. Nach Recherchen der Wochenzeitung «Die Zeit» hat die
ungarische Botschaft in Berlin kurz zuvor an Altmaier gemailt, dass
Ungarn die Flüchtlinge nicht mehr registrieren könne und mit Bussen
an die Grenze schicken werde, es sei mit vier- bis sechstausend
Flüchtlingen zu rechnen. Orban, der sich an dem Abend ansonsten ein
Fußballspiel anschauen will, habe versucht, mit Faymann zu
telefonieren. Der habe ihn zunächst auf den nächsten Morgen
vertröstet, dann aber nach 23 Uhr angerufen. Auch «Der Spiegel»
berichtet, das Gespräch habe es wohl gegen Mitternacht gegeben.
Merkel spricht mit Orban erst am nächsten Abend.

Ein entscheidender Mitstreiter steht aber an diesem historischen
Freitagabend noch auf Merkels Anrufliste: CSU-Chef Horst Seehofer.

Nach 23 Uhr: Merkel wählt die Handy-Nummer des bayerischen
Ministerpräsidenten. Er ist, so heißt es hinterher, in seinem
Ferienhaus in Schamhaupten im Altmühltal. Aber er geht nicht ran.
Altmaier wendet sich an die Amtschefin der Staatskanzlei, Karolina
Gernbauer. Sie versucht ebenfalls erfolglos, Seehofer ans Telefon zu
bekommen. In Merkels Umfeld versteht man nicht, wie ein
Ministerpräsident nicht erreichbar sein kann. Theoretisch hätten
Merkel oder Gernbauer aber die Polizei zu Seehofer schicken können.
Schließlich sagt Merkel Faymann zu, ohne den dritten
Koalitionspartner, den Chef der Schwesterpartei CSU und
Ministerpräsidenten jenes Landes gesprochen zu haben, in dem Stunden
später Tausende Flüchtlinge ankommen werden.

00.42 Uhr: Eilmeldung der Deutschen Presse-Agentur: «Die aus Ungarn
kommenden Flüchtlinge können nach Österreich und Deutschland
einreisen.» Faymann sagte das kurz zuvor Österreichs
Nachrichtenagentur APA unter Verweis auf die Abstimmung mit Merkel.

01.20 Uhr: Vize-Regierungssprecher Georg Streiter bestätigt der dpa,
dass die Entscheidung nach Gesprächen am Freitagabend gefallen ist.
Etwa zeitgleich kommt bereits ein erster Bus mit Flüchtlingen aus dem
ungarischen Zsambek nahe Budapest an der österreichischen Grenze an.
Die Menschen gehen zu Fuß auf die andere Seite und werden von
Österreichern mit Applaus, Willkommensplakaten und Essen begrüßt.

Gegen 8 Uhr: Seehofer meldet sich bei Merkel. Er sagt später der dpa:
«Ich habe dann morgens gegen 8 Uhr mit ihr telefoniert und gesagt,
dass ich die Entscheidung für einen Fehler halte. Und sie hat
geantwortet: Da bin ich jetzt aber betrübt, dass du das so siehst.»
Seehofer ist zutiefst getroffen. Für ihn ist das ein Vertrauensbruch.
«Ich hätte nie eine solche Entscheidung ohne den Koalitionspartner
getroffen. Die Politik des Durchwinkens ist am 4. September
autorisiert worden.» Das Verhältnis wird in dieser Nacht zerstört.

09.00 Uhr: Altmaier informiert von Evian aus per Telefonschalte die
Chefs der Staatskanzleien der Länder. Die Merkel-Faymann-Vereinbarung
lautet: «Aufgrund der heutigen Notlage an der ungarischen Grenze
stimmen Österreich und Deutschland in diesem Fall einer Weiterreise
der Flüchtlinge in ihre Länder zu, unter Beibehaltung der
Dublin-Kriterien bis zum Beschluss eines besseren Systems.» Altmaiers
Zuhörer sind verstimmt, dass sie in die Entscheidung nicht einbezogen
wurden, nun aber die Menschen versorgen müssen.

Spät am Nachmittag: Seehofer beruft eine Telefonschalte des CSU-
Präsidiums ein. Das Gremium kritisiert Merkels Vorgehen als falsche
Entscheidung. Mitglieder warnen vor einer «zusätzlichen Sogwirkung».


Abends: Streiter teilt nach dem Merkel-Orban-Telefonat mit, die
Aufnahme der Flüchtlinge sei «eine Ausnahme aufgrund der Notlage an
der ungarischen Grenze» gewesen. «Wir haben jetzt eine akute Notlage
bereinigt.» Im ARD-«Brennpunkt» betont Altmaier noch einmal, dass es

sich um eine Ausnahme handele. In München kommen an dem Wochenende
etwa 20 000 Menschen an.