Europa ohne Zinsen? Gewinner und Verlierer des EZB-Kurses Von Jörn Bender und Friederike Marx, dpa

16.12.2016 02:22

Die EZB hat die Zinsen im Euroraum faktisch abgeschafft. Geld ist
billig wie nie - und das wird nach der jüngsten Entscheidung der
Notenbank noch eine Weile so bleiben. Doch es gibt nicht nur
Profiteure der beispiellosen Geldflut.

Frankfurt/Main (dpa) - Nullzins, Geldflut, Strafzinsen für Banken -
die Europäische Zentralbank (EZB) stemmt sich mit allen Mitteln gegen
Konjunkturschwäche und Mini-Inflation im Euroraum. Ein Ende des
Anti-Krisen-Kurses ist nicht in Sicht - im Gegenteil: Die Notenbank
hat gerade erst wieder nachgelegt. Das milliardenschwere Programm zum
Kauf von Staats- und Unternehmensanleihen läuft neun Monate länger
bis mindestens Ende 2017 - auch wenn die EZB von April an monatlich
nur noch 60 Milliarden Euro statt 80 Milliarden Euro in den Markt
pumpen will. Wer profitiert von dem billigen Geld, wer leidet
darunter?

GEWINNER

- Aktionäre: Seit Jahren ist das extrem billige Geld der Notenbanken
wichtigster Schmierstoff der Börsen. Der deutsche Leitindex Dax etwa
legte - allerdings nach vorherigem Absturz in der Finanzkrise - seit
November 2011 um über 80 Prozent zu. Damals übernahm Mario Draghi die
Führung der EZB - und seine überraschende Zinssenkung zum Amtsantritt
sollte nicht der letzte Paukenschlag des Italieners bleiben. Die
Zinsen sind inzwischen praktisch abgeschafft, mit Anleihenkäufen in
großem Stil verknappt die EZB zudem auf diesem Feld das Angebot.

- Bundesfinanzminister: Der deutsche Fiskus kann sich billiger Geld
leihen als früher. Mitte Juni rutschte die Rendite zehnjähriger
Bundesanleihen sogar erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik in
den negativen Bereich. Der Bund konnte somit langfristig Schulden
aufnehmen und kassiert dafür Geld, anstatt Zinsen zu zahlen.

- Konsum: Vielen Verbrauchern sitzt das Geld locker, denn Sparen wird
kaum noch belohnt. Das freut Einzelhändler und hilft der Konjunktur.

- Kreditnehmer: Zwar geben Banken den rekordniedrigen Leitzins von
null Prozent nicht 1:1 an Kunden weiter. Dennoch war es selten so
günstig, die eigenen vier Wände oder eine neue Fabrikhalle zu
finanzieren. Nach Berechnungen der unabhängigen FMH-Finanzberatung
sank der Effektivzins für Baugeld mit zehnjähriger Laufzeit von knapp
fünf Prozent im November des Krisenjahres 2008 auf bis zu gut einem
Prozent im November 2016.

- Krisenstaaten: Die EZB kauft Zeit für angeschlagene Staaten wie
Griechenland und Italien, um Reformen umzusetzen. Kritiker wie
Bundesbank-Präsident Jens Weidmann warnen jedoch vor einer
Überforderung der Geldpolitik: «Es sind nicht die Zentralbanken, die
die Wirtschaft zu stärkerem Wachstum führen können. Den Schlüssel
dafür halten Politiker in der Hand.»

VERLIERER:

- Banken: Die Institute tun sich schwer mit dem Geldverdienen.
Wichtigste Ertragsquelle der Banken und Sparkassen in Deutschland ist
traditionell der Zinsüberschuss - die Differenz zwischen dem, was die
Institute zum Beispiel für Kredite kassieren und ihren Kunden etwa
als Sparzinsen zahlen. Nach Branchenangaben stammen im Schnitt rund
70 Prozent der Erträge aus dieser Quelle. Wegen des Zinstiefs brechen
die Erträge weg. «Die EZB-Politik hilft Banken nicht», kritisierte
Deutsche-Bank-Chef John Cryan. An den Anleihenmärkten erschwere die
EZB als großer Käufer zudem die Geschäfte.

- Bankkunden: Viele Institute drehen an der Gebührenschraube. Einige
wenige Banken geben inzwischen auch die Strafzinsen für Geld, das sie
bei der EZB parken, an Privatkunden weiter. Bankenverbände sind aber
überzeugt, dass sich das nicht auf breiter Front durchsetzen wird.

- Investoren: Das billige Geld treibt die Preise etwa für Immobilien
in die Höhe. Was auf den ersten Blick lukrativ erscheint, könnte sich
als Trugschluss erweisen. «Wir sollten aufpassen, dass wir nicht in
eine neue Blase hineinkommen», warnte Bundesfinanzminister Wolfgang
Schäuble (CDU) angesichts der gewaltigen Geldflut der Zentralbanken.

- Lebensversicherungskunden: Die Assekuranzen können die hohen
Zinsversprechen von bis zu 4 Prozent aus früheren Zeiten kaum noch
erwirtschaften. Die Verzinsung des beliebten Altersvorsorgeklassikers
sinkt seit geraumer Zeit. Der vom Bundesfinanzministerium festgelegte
Garantiezins liegt mittlerweile nur noch bei 1,25 Prozent, im
kommenden Jahr verringert er sich für Neuverträge auf 0,9 Prozent.

- Sparer: Sparbuch und Tagesgeld werfen kaum noch etwas ab. Kritiker
sprechen von einer «Enteignung» der Sparer.