Von Ränkespiel und Hinterzimmern: Wirbel im Europaparlament Von Verena Schmitt-Roschmann, dpa

10.01.2017 16:47

Wer wird Nachfolger von Martin Schulz? Das Europaparlament sucht
einen neuen Präsidenten - und stürzt darüber in eine politische
Sinnkrise.

Brüssel (dpa) - Es ist eine Geschichte von Hinterzimmern,
Geheimabkommen und gebrochenen Versprechen, die zumindest das
Brüsseler Europaviertel in Wallung versetzt. Gekränkte Eitelkeiten
spielen eine Rolle, vielleicht auch eine Prise Wichtigkeitswahn. Am
Ende aber geht es auch darum, wie in Europa für die Europäer Politik
gemacht wird.

Kurz gesagt geht die Geschichte so: Im Juni 2014 setzen zwei Deutsche
- der sozialdemokratische EU-Parlamentspräsident Martin Schulz und
der christsoziale Fraktionschef Manfred Weber - ihre Unterschrift
unter einen Pakt. In der ersten Hälfte der Legislaturperiode soll
Schulz Präsident des Europaparlaments bleiben dürfen, bevor ab Januar
2017 ein Kandidat der Europäischen Volkspartei übernimmt. Bei
internen Wahlen will man sich gegenseitig unterstützen. Der
Vereinbarung tritt später noch der Chef der Liberalen Fraktion bei,
der ehemalige belgische Regierungschef Guy Verhofstadt.

Damit ist nicht nur die Besetzung eines der mächtigsten Posten in
Brüssel ausgemacht. Die beiden größten Fraktionen - die EVP mit 221
Abgeordneten und die Sozialdemokraten mit 191 - bilden quasi eine
große Koalition, die dem christdemokratischen EU-Kommissionschef
Jean-Claude Juncker im Parlament Mehrheiten sichert. Zusammen kommen
sie gut über 50 Prozent, mit Verhofstadts Fraktion Alde sogar über 60
Prozent der 750 Parlamentarier - ein sattes Polster
zum Politikmachen.

Es sei von Anfang an auch ein Bündnis gegen die Radikalen und
Europakritiker im Parlament gewesen, sagt EVP-Fraktionschef Weber und
meint damit Rechtspopulisten vom Schlage der Französin Marine Le Pen
und des Brexit-Vorkämpfers Nigel Farage, aber auch linke
Europaskeptiker. Und jetzt, so prophezeit Weber düster, könnten die
Anti-Europäer mehr Einfluss gewinnen. Im Parlament werde es schwerer
werden, Mehrheiten zu finden, am Ende werde die ganze Institution
geschwächt, und das in einer so heiklen Zeit für Europa mit Brexit,
Flüchtlingskrise und Terrorgefahr.

Anlass des tiefschwarzen Szenarios: Nächste Woche steht nun
tatsächlich die Neuwahl des EU-Parlamentspräsidenten an (17. Januar)
- und der Schulz-Weber-Pakt ist geplatzt. Nicht weniger als acht
Bewerber konkurrieren. Und obwohl Weber tapfer die guten Chancen des
EVP-Kandidaten Antonio Tajani beteuert, ist dessen Wahl alles andere
als gesichert.

Es fing damit an, dass Schulz den Posten eigentlich gerne behalten
wollte und über Monate austestete, ob die EVP das irgendwie
tolerieren würde. Er biss auf Granit und entschloss sich zum Wechsel
in die Bundespolitik. Doch damit war Schulz' Amt für die
Sozialdemokraten noch nicht erledigt. Sie stellten flugs ihren
Fraktionschef Gianni Pittella als eigenen Kandidaten auf und
verabschiedeten sich aus der großen Koalition.

Für Weber ist das ein Affront - und am Dienstag ging er in die
Offensive. Er veröffentlichte die seit 2014 unter Verschluss
gehaltene Abmachung mit Schulz und Verhofstadt und beschwerte sich
bitterlich über die wortbrüchigen Partner. Dem Anschein des Gekungels
trat er entgegen: «Ich möchte deutlich machen, dass diese
Partnerschaft der Normalfall der Demokratie ist.» Man möge sich doch
bitte besinnen. «Die Tür ist nach wie vor offen», sagt der CSU-Mann.


Die übrigen Fraktionen zeigen sich allerdings recht ungerührt. Bei
den Sozialdemokraten heißt es, die große Koalition habe es ohnehin
nie wirklich gegeben, denn es fehle ja ein Koalitionsvertrag.
Außerdem gehe es einfach nicht, dass die EVP die drei wichtigsten
Brüsseler Posten - Kommissionspräsident, Ratspräsident und
Parlamentspräsident - für sich beanspruche.

Grüne und Linke, die bei dem Pakt außen vor blieben, sehen das
Scheitern ohnehin eher mit Genugtuung. «Wir waren von Anfang an gegen
Absprachen, denn sie lähmen das Europäische Parlament», sagt die
Grünen-Fraktionschefin Ska Keller. Großer Vorteil des EU-Parlaments
seien eigentlich die wechselnden Mehrheiten, die dafür stünden, dass
Argumente noch zählten.

Dass auch kuriose Bündnisse denkbar sind, führte zuletzt der
Proeuropäer Verhofstadt vor, der ausgerechnet der Euro-kritischen
Fünf-Sterne-Bewegung eine politische Heimat in der liberalen Fraktion
bieten wollte. Parteichef Beppe Grillo setzte die kuriose
Konstellation sogar in den eigenen Reihen durch. Nur Verhofstadts
Fraktionskollegen rebellierten - und ließen sowohl ihren Chef als
auch Grillo im Regen stehen. Nicht jeder Pakt geht eben auf.