Verhofstadt: «In Wirklichkeit gibt es die EU gar nicht» Interview: Verena Schmitt-Roschmann, dpa

23.03.2017 06:00

Die Feiern zum 60. Jahrestag der Römischen Verträge findet der
belgische Liberale Guy Verhofstadt nach Lage der Dinge ziemlich
überflüssig. Denn er sagt: Was damals beschlossen wurde, ist
gescheitert.

Brüssel (dpa) - Die Europäische Union muss aus Sicht des ehemaligen
belgischen Ministerpräsidenten Guy Verhofstadt von Grund auf
reformiert werden. Denn sie funktioniere einfach nicht, sagt der
liberale Europaparlamentarier im Interview der Deutschen
Presse-Agentur.

Frage: Können Sie drei Dinge nennen, warum wir die EU brauchen?

Antwort: Ich sage Frieden, ich sage Arbeitsplätze, ich sage
Zivilisation. Dieser Kontinent hat nur eine Zukunft: eine europäische
Zukunft. Aber ich bin nicht blind. Ich sehe, dass die Leute Zweifel
haben. Sie haben kein Vertrauen darin, wie die Europäische Union
derzeit funktioniert.

Frage: Funktioniert sie denn?

Antwort: In Wirklichkeit gibt es die EU gar nicht - auf Papier schon,
aber nicht in echt. Es ist eine Konföderation von Staaten, die auf
Einstimmigkeit basiert. Was wäre, wenn die USA so regiert würden wie
Europa? Zum einen hätten wir nicht nur einen Präsidenten, sondern
drei. Außerdem hätten wir 50 Gouverneure, die sich fünf, sechs Mal im

Jahr treffen und die gesamte amerikanische Politik bestimmen. Und
wenn der Gouverneur von Alaska oder Vermont sagt, er macht nicht mit,
dann passiert überhaupt nichts mehr. Jeder würde sagen, dass das
verrückt wäre.

Frage: Aber kann man das wirklich mit der EU vergleichen?

Antwort: Wenn man es analysiert, ist es offensichtlich, warum Europa
nicht funktioniert. Es ist ein Problem politischer Institutionen, die
noch aus einem anderen Jahrhundert stammen und die in einer
Flüchtlings-, Finanz- oder Ukrainekrise nicht sofort handeln können.
Die Union ist nicht fähig, auf all das zu reagieren.

Frage: Aber einen europäischen Superstaat will doch auch keiner, eher
im Gegenteil, oder?

Antwort: Das liegt daran, dass die Leute nur die populistische
Rhetorik hören. Sie sagen: Die Union funktioniert nicht, lasst uns
zum alten Nationalstaat zurückkehren. Aber wenn etwas nicht
funktioniert, kann man zwei Dinge tun: Man kann es aufgeben oder man
kann es reformieren. Ich will reformieren. Und ich bin nicht alleine.
Es gibt eine neue Generation radikaler proeuropäischer Reformer. Sie
sind in den kommenden Jahrzehnten die Gegenkraft zu den Nationalisten
und Populisten.

Frage: Wo sehen Sie denn Unterstützung für eine Reform der
EU-Institutionen?

Antwort: Überall. Unser politisches System funktioniert nicht. Hier
braucht man die Zustimmung von jedem. Sogar eine noch so kleine
Partei in Griechenland oder Finnland kann den gesamten Prozess
aufhalten. Tatsache ist: Gute Institutionen bringen gute Ergebnisse,
schlechte Institutionen bringen schlechte Ergebnisse.

Frage: Was also schlagen Sie vor?

Antwort: Engere Zusammenarbeit, und das bedeutet nicht unbedingt mehr
Europa. Enger bedeutet auch, die Kommission mit 28 Mitgliedern
abzuschaffen, zumal wir noch nicht einmal genug Ressorts für 28
haben. Vielleicht ist eine kleine Europa-Regierung mit zwölf eine
bessere Lösung. Europa wird nicht von den Europäern getötet oder von

den Bürgern, Europa stirbt daran, dass einige Mitgliedsstaaten
denken, sie müssten es regieren. Aber die haben ja noch nicht mal die
Zeit dafür, sie müssen ja ihr Land regieren. Wir brauchen volle
Demokratie auch auf europäischer Ebene, die von allen Bürgern
überwacht wird.

Frage: Was halten Sie von den Reformen, die jetzt vor dem 60.
Jahrestag der Römischen Verträge diskutiert werden?

Antwort: Wir feiern jetzt groß in Rom, aber in Wirklichkeit ist das
gescheitert. Wegen eines Einspruchs des französischen Parlaments 1954
konnten wir keine politische, fiskale, wirtschaftliche und
verteidigungspolitische Union gründen, sondern nur eine Zollunion und
1957 die Römischen Verträge unterzeichnen. Das war nur eine
Ersatzlösung, weil wir nicht das tun konnten, was die Gründungsväter

eigentlich wollten. Jetzt bekommen wir die Konsequenzen zu spüren.
Statt der Feiern in Rom sollten wir sagen, ok, wir besinnen uns auf
das Wesentliche.

Zur Person: Guy Verhofstadt (63) war von 1999 bis 2008 belgischer
Regierungschef und wechselte dann ins Europaparlament, wo er die
Fraktion der Liberalen führt. Sein jüngstes Buch heißt: «Europas
letzte Chance»