Beistand und Tadel von oben - Die EU beim Papst Von Annette Reuther und Lena Klimkeit, dpa

24.03.2017 19:36

Eine göttliche Eingebung kann der EU derzeit nicht schaden. Die
EU-Staats- und Regierungschefs besuchen vor dem Gipfel in Rom den
Papst. Der hat auch ungemütliche Botschaften für sie parat.

Rom (dpa) - Die einen lesen die Übersetzung, die anderen lauschen
aufmerksam, andere scrollen auf dem Smartphone. Der Papst hat an
diesem Freitagabend eine klare Botschaft, die Positionen seiner
Zuhörer aber könnten nicht unterschiedlicher sein.

Die Staats- und Regierungschefs der EU-Länder holen sich vor ihrem
Sondergipfel diesen Samstag in Rom beim Heiligen Vater ein wenig
Beistand von oben. Vorher staunen sie über die prächtige Sala Regia
im Apostolischen Palast im Vatikan und machen Selfies.
Bundeskanzlerin Angela Merkel begrüßt reihum, lacht, stellt ihren
Mann Joachim Sauer vor. Kann sie die Führungsperson sein, die der
Papst unlängst verlangte? Zu Franziskus jedenfalls pflegt sie gute
Beziehungen, schon mehrmals haben sie sich getroffen.

Papst Franziskus trifft auf eine ungleiche Mannschaft, die 60 Jahre
nach der Grundsteinlegung für die EU immer stärker
auseinanderzudriften scheint. Auf der einen Seite stehen Länder wie
Griechenland und Italien, die sowohl von der Flüchtlingskrise als
auch von der Finanzkrise betroffen sind. Auf der anderen Seite sind
Polen oder Ungarn, die sich immer mehr abschotten. «Von Anfang an war
klar, dass das pulsierende Herz des politischen Projekts Europa nur
der Mensch sein konnte», sagt Franziskus. Zugleich habe offenkundig
das Risiko bestanden, dass die Verträge nicht mit Leben erfüllt
werden würden.

Der Argentinier hat seit seinem Antritt vor vier Jahren zwar auf
Europa nicht unbedingt sein Hauptaugenmerk gelegt. Trotzdem treibt
ihn der Kontinent um. Und mit Kritik an der Staatengemeinschaft hat
der 80-Jährige noch nie gespart. Im November 2014 sprach er vor dem
Europarat und Europaparlament in Straßburg von einem «verkrümmten»

und «verängstigten» Europa - und das war noch vor dem Brexit-Votum,
das die EU in die schwerste Krise ihrer Existenz stürzte.

Am Herzen liegt dem Katholiken-Oberhaupt vor allem das Thema, über
das die EU so erbittert streitet: Die Flüchtlinge. «Man kann sich
nicht darauf beschränken, die schwerwiegende Flüchtlingskrise dieser
Jahre so zu bewältigen, als sei sie nur ein zahlenmäßiges,
wirtschaftliches oder ein die Sicherheit betreffendes Problem», mahnt
Franziskus. Er beklagt, dass der lange «Treck von Frauen, Männern und
Kindern, die auf der Flucht vor Krieg und Armut sind», als Gefahr
wahrgenommen wird. Europa müsse Ängsten entgegenwirken, fordert er.

Immer wieder warnt Franziskus davor, dass Europa auf dem Weg sei,
sich wegen des Flüchtlingszustroms zwischen neuen Nationalismen und
einem wiederaufblühendem Populismus zu verlieren. Das wirksamste
Heilmittel dagegen sei die Solidarität, rät Franziskus am Freitag
den Staatenlenkern. Und Solidarität dürfe nicht nur ein Vorsatz sein,

sondern müsse gelebt werden.

Damit dürfte Franziskus den Regierungschefs von Griechenland und
Italien aus der Seele gesprochen haben, die im Papst einen
Unterstützer in der Flüchtlingsfrage sehen. Der ungarische
Regierungschef Viktor Orban dagegen wirft einen Blick auf sein Handy,
als es um das Leid der Flüchtlinge geht. Polen und Ungarn machen
derzeit vor allem mit Abschottungspolitik von sich reden. «So viele
Mühen hat man aufgewendet, um jene Mauer zu Fall zu bringen!»,
beschreibt Franziskus den gemeinsamen Willen nach den «dunklen und
blutigen Jahren des Zweiten Weltkrieges». «Und doch ist heute die
Erinnerung an die Mühen verloren gegangen.»

Franziskus hat sich Zeit genommen für die 27 Staats- und
Regierungschefs - bis auf die britische Premierministerin Theresa
May, die nach dem Brexit-Votum nicht an den Feierlichkeiten
teilnimmt, sind alle gekommen. Die Dänen kamen jedoch 40 Minuten zu
spät.

Der Pontifex scheint die Hoffnung für das europäische Projekt noch
nicht aufgegeben zu haben. Mit 60 Jahren sei die EU schließlich in
einem entscheidenden Alter, in der «Zeit der vollen Reife». «Im
Unterschied zu einem 60-jährigen Menschen aber hat die Europäische
Union nicht ein unausweichliches Altwerden vor sich, sondern die
Möglichkeit einer neuen Jugend.» Verwandelt die Union die Möglichke
it
bei ihrem Gipfel am Samstag? Franziskus lässt die EU-Chefs am Ende
seiner Rede wissen, was er denkt. «Im Übrigen bin ich der Meinung,
dass Europa es wert ist, aufgebaut zu werden.»